Eine „Geistergeschichte“ – das klingt so zeitgemäß wie das Cover ausschaut: Piratenhut und Holzschwert. Mit Piratenromantik hat The Kissing Gate aber wenig zu tun.
Die Handlung beginnt im Oktober 1957. Die 33-jährige Alice Eaton besucht ihren persönlichen Kindheitsort im nordenglischen Yorkshire. Das ländliche Anwesen gehört ihrer Tante Elspeth, die sich nach dem frühen Unfalltod von Sophies Eltern um das kleine Mädchen kümmerte und nun ihrerseits im Sterben liegt.
Hier springt die Handlung ins Jahr 1928, und wir sehen die trauernde Alice, das Opfer unbekümmert-sorgloser Rabeneltern, die sich mit der gleichaltrigen Sophie anfreundet, als sie unvermittelt in dem Haus auftaucht. Elspeth sitzt währenddessen ununterbrochen an ihrer Schreibmaschine, während Alice und Sophie allerlei Abenteuer erleben.
Aber auch Alice dämmert irgendwann, dass hier etwas im Argen liegt: „Aber wo wohnst du? Wo schläfst du? … Wenn wir uns sehen, trägst du immer dasselbe Kleid … dein Haar ist immer gleich.“ Wir Leser*innen wussten von der ersten Begegnung an schon, dass Sophie ein Geist ist, nun endlich, auf Seite 32, ahnt dies auch Alice. Sophie verstarb vor vielen Jahren, als sie die giftigen Früchte einer Eibe probierte. Diesen Baum erreicht man, wenn man einen kleinen Garten (in Wirklichkeit ein Friedhof) durchquert, durch das titelgebende „Kissing Gate“. Das machen die beiden Mädchen natürlich.
Ein „Kissing Gate“ klingt romantischer als seine Funktion: Es handelt sich um ein Tor, das so konstruiert ist, dass Spaziergänger durchkommen, Schafe aber nicht. In der Wikipedia gibt es eine Beschreibung und schematische Darstellung dieser vornehmlich britischen Errungenschaft. Der Name rührt von der Tradition her, dass dieses für nur eine Person konstruierte Tor durchquerende Paare sich darin küssen mögen.
The Kissing Gate ist ursprünglich ein Crowdfunding-Projekt gewesen, das im April 2022 begonnen und nach 15 Minuten bereits finanziert war. Die 662 Unterstützer*innen trugen in kurzer Zeit weit mehr als die geplanten 1.800 £ dazu bei, um die Kampagne zu einem Erfolg zu machen. Schließlich kamen 17.146 £ zusammen. Das ist noch mehr als bei Aly Fells erster Kickstarter-Comic-Kampagne, mit der er A Trick of the Light finanzierte (13.550 £). Dass sein zweites Crowdfunding-Projekt nun auch eine Übersetzung ins Deutsche schafft, ist nicht selbstverständlich. 2016 hatte er bereits in der Digitalsparte von Dark Horse seine sechsteilige Fantasystory The Shadow Glass untergebracht.
Aly Fell, eigentlich Alastair Fell, ist ein britischer Grafiker, der in der Werbebranche und in der Spieleentwicklung tätig ist und nun, nach The Shadow Glass (2016) und A Trick of the Light (2021) seinen dritten Comic präsentiert.
Die Geschichte ist nicht besonders aufsehenerregend. Eine Frau in ihren frühen 30ern reist zurück an einen Ort ihrer Kindheit, um ihre Tante ein letztes Mal zu sehen. Den Gärtner Sikes finden beide etwas unheimlich, aber wir erfahren nicht, woraus die Mädchen dieses Gefühl schöpfen. Im Zentrum der Geschichte steht aber nicht der Besuch im Jahr 1957, sondern ihre Erinnerungen, die in der Binnengeschichte präsentiert werden. Den erzählerischen Rahmen braucht es vielleicht, um die Verbindung zwischen Sikes und Alice aufzuklären und seine Tragik noch hervorzuheben.
Die erzählerische Gestaltung, ein Geisterplot mit Rahmenhandlung, mutet sogar noch älter an – man würde so eine Story eher bei Theodor Storm im 19. Jahrhundert vermuten als im 21. Jahrhundert. Als Referenzen nennt Fell selbst etwa den Film „The Amazing Mr. Blunden“ (1972, auf dem Roman The Ghosts von Antonia Barber beruhend) oder den Roman The Secret Garden von Frances Hodgson Burnett (1911, diverse Verfilmungen). Bei genauer Betrachtung hat er tatsächlich sehr viele Elemente aus diesen beiden Vorlagen übernommen und zusammengewürfelt. Der Zusammenhang zu Lewis Carrols Kinderbuchklassiker Alice im Wunderland hingegen (der Name der Hauptfigur deutet es an, und das Buch wird im Comic gezeigt) ist eher assoziativ, bis auf die Schwelle, die das Kissing Gate symbolisiert.
Die Piratenaccesoires auf dem Cover sind etwas willkürlich, vielleicht ein etwas unglücklicher Hinweis auf die (für die Handlung völlig irrelevante) Liebesbeziehung zwischen Alice und Eve in der Rahmenhandlung. Überhaupt ist das Verhältnis von Rahmen- und Binnenhandlung nicht so überzeugend wie die Verzahnung zwischen der Binnenerzählung und der darin eingeflochtenen Vorgeschichte.
Beeindruckend ist der Moment, als die Schwarzweiß-Zeichnungen plötzlich Farbe bekommen. Der Durchgang der Figuren durch das Kissing Gate ist nicht nur symbolhaft das Überschreiten der Grenze vom Leben zum Tod, sondern geht auch mit dem Einzug von Farben einher. Ganz und gar bunt ist die Welt, als Alice wiederum in einer Rückschau die Ereignisse beobachtet, die zu Sophies Tod führten. Und wie Fell hier die Erzählebenen miteinander verbindet, ist wirklich geschickt.
Die feinen Bleistiftzeichnungen sind wunderschön, allerdings fällt es Fell erkennbar schwer, den Figuren unterschiedliche Gesichtsausdrücke zu geben. Auch wenn die Zeichnungen Bild für Bild gelungen sind, fällt doch rasch auf, dass den Figuren Gestik und Mimik fehlen. Und vielleicht zeichnet Fell einfach gern Frauen in Kostümen, wie seine Pin-up-Zeichnungen (auch von Piratinnen) nahelegen.
Kurzum: Die Pointe ist eigentlich ganz und gar nicht überraschend und die Erzählkonstruktion erscheint nicht ganz zwingend. Viele Details, die bloß angedeutet werden (Was macht Elspeth eigentlich Geheimnisvolles im Schreibzimmer? Was steckt hinter dem „Unfall“ der Eltern? Hat es mit den Alice-im-Wunderland-Anspielungen vielleicht mehr auf sich?), machen den Eindruck, über den allgemein-rätselhaften Charakter hinaus nichts zu bedeuten. Oder die Erzählung hat noch eine Ebene, die auch auf den zweiten Blick noch nicht zu sehen ist.
Von Schafen und Pirat*innen
Skinless Crow, 2023
Text und Zeichnungen: Aly Fell
Übersetzung: Simona Turini
64 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 24,50 Euro
ISBN: 978-3039630158
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