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Eine Weihnachtsgeschichte

Es sieht aus, als würde sich José Luis Munuera im 19. Jahrhundert der Industrialisierung recht wohl fühlen. Vor noch gar nicht langer Zeit war es das New York von Hermann Melvilles Bartleby, dem Schreiber, jetzt hat er sich dem London von Charles Dickens‘ Christmas Carol angenähert. Und wenn es nicht die durchindustrialisierten, verdreckten Städte sind, dann begibt er sich gerne in die Peripherie dieser Ära, aufs Land, wie zuletzt bei seinem Gastauftritt bei den Blauen Boys (Nummer 49) oder auch seiner KI-Steampunk-Fantasy Rostige Herzen.

Elizabeth Scrooge mag keine Heuchler. Alle Abbildungen © Carlsen Comics

Munuera wäre nicht Munuera, wenn er in Dickens‘ Weihnachtsgeschichte nicht eigene Akzente setzen würde, und so machte er aus Dickens‘ griesgrämigem Ebeneezer Scrooge kurzerhand eine Elizabeth Scrooge, eine attraktive Frau mittleren Alters. Das ist eine interessante Akzentverschiebung, denn einerseits verändert sie unseren Blick auf Scrooge, andererseits reagiert aber auch Elizabeth Scrooge auf jeden der drei Geister der Weihnacht – der vergangenen, der gegenwärtigen und der zukünftigen – etwas anders als der gute alte Ebeneezer. Während ebenjener sehr bald die Irrwege seines Lebens bedauert und fortan ein warmherzigerer, gütigerer Kapitalist sein will, lässt Elizabeth ein Umdenken nur in Nuancen zu.

Der Schlüssel zum Verständnis von Munueras Anliegen findet sich im letzten Akt des Dramas, als Scrooge Zeugin ihres eigenen Ablebens wird. Denn nicht länger spotten ihre Konkurrenten über einen gleichwertigen Konkurrenten, sondern ziehen genüsslich darüber her, wie fehl am Platze sie als Frau unter ihresgleichen doch war, was selbstverständlich eine Trotzhaltung erfordert, die bei Dickens so nicht vorgesehen war. Und doch bereitet auch das die letzte Pointe nur vor: Der Geist der zukünftigen Weihnacht konfrontiert Scrooge – ganz gemäß der Vorlage – mit ihrer Verantwortung am Tod des kleinen Tim, dem Sohn ihres Sekretärs: „Ihr habt euch viel Mühe dabei gegeben, mich davon zu überzeugen, dass ich in dieser Geschichte die Böse bin“, reagiert Scrooge darauf, nun deutlich angefressen, auf den Geist.

Und so dampft Munuera Dickens‘ allgemeingültige Fabel, die auf jeden beliebigen Geschäftsmann anwendbar ist, auf den Ausnahmefall ein, dass sich eine Frau aus eigener Kraft zum Scrooge hochgearbeitet hat. Sind aber die drei Geister der Weihnacht etwa ausgeschickt worden, um der einzigen Frau unter den Wölfen das fürchten zu lehren? Oder, so die überzeugendere Lesart, überwindet Elizabeth ihre eigenen Selbstzweifel, um fortan neuen Mut als bessere, feminine Vertreterin des Kapitalismus zu fassen? Das wäre tatsächlich gar keine so schwache Pointe. Während der gute Ebeneezer sich am Ende etwas wohlfeil in der Haut eines besseren Menschen wiederfindet, der nun auch Almosen gibt, stürzt Elizabeth sich in die Arbeit, den Weg zu echter Gleichberechtigung anzubahnen. Es ist durchaus gewinnbringend, an den entscheidenden Stellen der Adaption genau hinzusehen.

Aber beißen sich die drei Geister der Weihnacht bei Elizabeth am Ende die Zähne aus?

Es ist nicht das erste Mal, dass Munuera etablierte Figuren umkrempelt. Schon seine Version von Spirou (Stories von Morvan) war auf Konfrontationskurs gebürstet und brachte neben innovationsfreudiger Seitengestaltung auch mehr Brutalität, vor allem aber ein gutes Gespür für politische Missstände ins Spiel. Daraus erwuchsen veränderte Charakterzüge für die Figuren, und was früher – vor allem bei Franquin – oft hemmungslos cholerisch daherkam, wich gerechtfertigter Wut. Eher melancholisch als wütend dagegen war Munueras Version der Blauen Boys, wo die überdrehte Cholerik der Figuren einer traurig-resignierten Stimmung weicht. Eine ähnliche Stimmung findet sich in Munueras Arbeiten Rostige Herzen und in seiner Version von Melvilles Bartleby.

Von Charles Dickens‘ blumig-poetischer Sprache des Christmas Carol ist indes nicht viel übrig geblieben, dafür ist Munueras Grafik märchenhaft, verträumt, auch etwas disneyesk. Erzählerisch ist er aber einer neuen Sachlichkeit verpflichtet, die für die einfache moralische Auflösung, wie sie bei Dickens stattfindet, nicht viel übrig hat.

Munueras Dickens-Adaption hat eine enorme Fallhöhe und überzeugt doch

Anmerkung: Denjenigen, die dazu das Original gegenlesen wollen, sei vor allem die von Flix illustrierte Ausgabe der Insel-Bücherei wärmstens empfohlen. Flix‘ Zeichenstil ergänzt den durch Eike Schönfeld sorgfältig übersetzten Text sehr stimmungsvoll und ist gleichzeitig doch so typisch Flix, dass man von einer sehr eigenständigen Arbeit ausgehen kann.

8von10Eine Weihnachtsgeschichte
Carlsen, 2023
Text und Zeichnungen: José Luis Munuera
Übersetzung:Lea Hübner
80 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 24,00 Euro
ISBN: 978-3551771285
Leseprobe

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