Die erste Begegnung zwischen Peter Parker und Miles Morales in Brian Michael Bendis‘ und Sara Pichellis fünfteiliger Miniserie Spider-Men (2012) ist zugleich das erste Crossover zwischen zwei Welten, die man bis zu diesem Zeitpunkt feinsäuberlich getrennt hielt. Auch wen die größeren Implikationen für das Aufeinanderprallen zweier Marvel-Universen wenig kümmern, wird hier mit einer gefühlvollen Story belohnt.
Parallele Welten und alternative Realitäten waren in Superheldencomics stets ein großes Thema. Das hat damit zu tun, dass es bei jeder Heldenfigur gewisse einschneidende Ereignisse gibt, die von Anfang an ihren Charakter definieren. Im Falle von Spider-Man wären solche Ereignisse etwa der Tod seines Onkels Ben oder der Verlust seiner Freundin Gwen Stacy –Schicksalsschläge, ohne die Peter Parker nicht derjenige wäre, welcher der Leserschaft seit den 60er/70er Jahren ans Herz gewachsen ist. Um aber doch einen gewissen Spielraum für Spekulationen zuzulassen, publizierte Marvel seit den 70er Jahren so genannte What-if-Geschichten, die alternative Szenarien der bereits kanonisierten Geschehnisse durchspielten.
Was wäre zum Beispiel passiert, wenn Onkel Ben nicht gestorben wäre (siehe What if? #46 von 1984)? Dadurch, dass Peter den Räuber damals laufen ließ, der Ben schließlich tödlich verletzte, konnte er die Botschaft seines Onkels – dass „aus großer Kraft große Verantwortung“ folge – erst richtig realisieren. Die Frage ist also, ob er ohne dieses Erlebnis noch der Spider-Man wäre, den wir aus der Hauptrealität kennen.
Gedankenexperimente dieser Art bestimmen auch den Band Spider-Men von Autor Brian Michael Bendis und Zeichnerin Sara Pichelli, der nun in der Reihe „Marvel Must-Have“ bei Panini erschienen ist. Obwohl die Serie bereits 2012 herauskam, könnte das Timing für die Neupublikation nicht besser sein, sie dürfte gerade heute ihr Publikum auch abseits der Hardcore-Comicfans finden. Als fleißiger Kinogänger und Konsument von Disneyplus-Serien hat man sich schließlich längst mit der Idee alternativer Realitäten angefreundet.
Was den Filmen aber häufig bloß dazu dient, beliebte Figuren wiederauferstehen zu lassen, so dass nichts mehr Konsequenzen hat und alles in einem Meer krachend bunter Beliebigkeit unterzugehen droht, lässt einen meistens vergessen, warum sich Comics überhaupt alternativer Versionen derselben Figuren bedienen. Es geht darum, neue Facetten einer Persönlichkeit zu erforschen, und nicht darum, irgendeinen Hollywood-Star wieder in sein altes Kostüm zu zwängen. Wer herausfinden möchte, wie Comics idealerweise mit alternativen Welten umgehen, sollte bei Spider-Men definitiv zugreifen.
Der zweite Grund, warum der Band brandaktuell ist, hängt damit zusammen, dass das Kinopublikum in den beiden exzellenten Animationsfilmen Spider-Man: Into the Spider-Verse (2018) und Spider-Man: Across the Spider-Verse (2023) auf einmal mit einem jungen, afroamerikanischen Buben namens Miles Morales konfrontiert war, der so wie Peter Parker von einer radioaktiven Spinne gebissen wurde, von dem die meisten aber vermutlich noch nie etwas gehört haben. Wer also die Filme gesehen hat und nun mehr darüber wissen möchte, wie Miles‘ Verhältnis zu Peter in den Comicvorlagen begründet ist, kommt um den Band Spider-Men nicht herum.
Dass Panini die Story gerade jetzt in seine „Must-Have“-Reihe aufnimmt, ist kein Zufall, noch dazu, da mit Spider-Man: Beyond The Spider-Verse 2025 der nächste Film rund um Miles Morales in die Kinos kommen soll. (Spider-Men bildet so die perfekte Ergänzung zu den bereits in der „Must-Have“-Reihe erschienenen Panini-Bänden Miles Morales: Ultimate Spider-Man und Spider Man: Spider-Verse.)
Seit 1961 kennen die Leserinnen und Leser Peter Parker, den Highschool-Schüler mit den Superkräften einer Spinne, der mühelos Wände hochklettert und sich anhand von Spinnennetzen von Hochhaus zu Hochhaus schwingt. Die Realitätsebene, auf der diese Abenteuer Spider-Mans angesiedelt sind, bekam später den Namen „Earth-616“. Um die Entstehungsgeschichte Spider-Mans für ein jüngeres Publikum und auf frische Weise zu erzählen, wurde 2000 die Reihe Ultimate Spider-Man aus der Taufe gehoben. Sie ermöglichte es Autor Brian Michael Bendis und Zeichner Mark Bagley, Peter Parkers Geschichte mit leichten Variationen neu aufzurollen und sukzessive mit anderen Marvel-Figuren wie den Fantastic Four oder den X-Men anzureichern.
Um mehr erzählerische Freiheit zu haben, war von Anfang an klar, dass die Geschehnisse von Ultimate Spider-Man nicht in der Hauptkontinuität von Earth-616 angesiedelt waren, sondern in einem eigenen Universum spielten, das ab 2004 als „Earth-1610“ gekennzeichnet wurde.
Anders als die episodischen What-if-Realitäten erwies sich das Ultimate-Universum als besonders langlebig. Über 160 Ausgaben hinweg – Ultimate Spider-Man lief von 2000 bis 2011 – wurde ein Bogen von Peter Parkers Verwandlung bis hin zu seinem Tod gespannt. Die Reihe stellt bis heute eine der vielleicht besten „Einstiegsdrogen“ ins Superheldengenre dar, weil sie quasi von Null weg eine in sich stimmige Welt mit schillernden Charakteren entwirft, ohne irgendein Vorwissen vonseiten der Leserschaft vorauszusetzen. Was zudem zur Konsistenz der Reihe beiträgt, ist die Tatsache, dass Bendis zum Großteil mit Spider-Man-Veteran Bagley zusammenarbeitete (eine der längsten Kooperationen eines Kreativteams an ein und derselben Serie überhaupt!) und erst gegen Ende zu Zeichnern wie Stuart Immonen oder David Lafuente wechselte. Ultimate Spider-Man prägt bis heute das Image, das wir von vielen Marvel-Helden haben, z. B. war Geheimdienstchef Nick Fury schon damals nach dem Vorbild Samuel L. Jacksons modelliert, wo der Nick Fury auf Earth-616 noch ganz anders gezeichnet wurde. Geradezu prophetisch, wenn man sich überlegt, dass Jackson in den späteren Marvel-Filmen tatsächlich diese Figur spielen sollte.
Nach dem Tod Peter Parkers im Ultimate-Universum wäre es ein Leichtes gewesen, ihn wieder zum Leben zu erwecken. (Wie wir wissen, erweist sich der Tod ikonisch gewordener Superhelden selten als permanent.) Stattdessen schlug Bendis aber einen anderen Weg ein und erschuf eine völlig neue Figur, die Peter auf Earth-1610 nachfolgen sollte – Miles Morales. Anders als der Waisenjunge Peter hat Miles noch beide Elternteile, anders als Peters Onkel Ben ist Miles‘ Onkel Aaron kein Mentor für den Buben, sondern ein Krimineller mit dunkler Vergangenheit.
Bei einem Einbruch in Osborns altes Labor lässt Aaron eine von jenen experimentell gezüchteten Spinnen mitgehen, die damals auch Peter gebissen hat. Zurück in Aarons Apartment wird Miles bei einem Besuch prompt von jener Spinne gebissen. Ausgestattet mit einem leicht abgewandelten Set an Kräften (wozu die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen ebenso gehört wie ein seine Gegner lähmender „Venom-Blast“) muss Miles auf eigene Weise lernen, was es heißt, dass aus großer Kraft große Verantwortung folge.
Währenddessen existiert in der Hauptrealität von Earth-616 aber immer noch ein Peter Parker, der im Gegensatz zu seinem Ultimate-Counterpart das junge Erwachsenenalter erreicht hat. Wer die Logik von Comicbüchern kennt, weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die beiden Welten aufeinanderprallen und Peter über kurz oder lang Miles gegenübersteht. In Spider-Men ist es schließlich soweit.
Die Geschichte beginnt so, dass Peter auf einem seiner Streifzüge über die Häuserdächer New Yorks einen rosa Lichtkegel in den Himmel aufsteigen sieht. Er begibt sich auf die Suche nach dessen Ursprung und landet in einer alten Lagerhalle, die dem Superschurken Mysterio als Schlupfwinkel dient. Das Licht kommt aus einer eigenartigen Vorrichtung, das verdächtig an die „Ghost-Traps“ der Ghostbusters-Filme erinnert. Wie sich herausstellt, hat Mysterio an einem Portal zwischen den Universen gebastelt. Wir erinnern uns an den Mysterio des Ultimate-Universums, der zu einem der wichtigsten Gegenspieler Spider-Mans geworden ist. Mit seinem roboterartigen Körper und einer blauen Dunstwolke anstatt eines Kopfs blieben Ursprung und Motivation des Ultimate-Mysterios stets nebulös. In Spider-Men legt Bendis nun offen, dass der Mysterio von Earth-1610 niemand anderer ist als der Mysterio von Earth-616! Anstatt selbst durch das Portal zu gehen, schickt er einen Avatar (jenen Roboter, der in der Ultimate-Reihe so viele Rätsel aufgegeben hat) in das andere Universum, um sich durch Banküberfälle daran zu bereichern. Spider-Man und Mysterio geraten in ein Handgemenge und es kommt, wie es kommen muss: Das interdimensionale Portal wird während des Kampfes beschädigt und Peter flugs ins andere Universum gesogen. Er landet im New York von Earth-1610 und merkt bald, dass es hier einen anderen, ganz in schwarz gekleideten Spider-Man gibt.
Das Tolle an Spider-Men ist, dass der Wechsel zwischen den Realitätsebenen nie zum Selbstzweck gerät, sondern stets in den Diensten eines spannenden Grundgedankens steht: Wie sieht eine Welt aus, in der ich bereits gestorben bin? Peter hat zunächst noch keine Ahnung, wo er gelandet ist, er merkt nur, dass die Menschen, denen er begegnet, schlecht auf sein Kostüm zu sprechen sind. Wie sich herausstellt, ist Spider-Man in dieser Welt bereits gestorben, wobei in der Zwischenzeit jeder weiß, dass hinter der Maske Peter Parker gesteckt hat. Das Kostüm eines toten Helden zu tragen, zeugt von schlechtem Geschmack! Als der Peter von Earth-616 von seinem eigenen Tod in der Zeitung liest, bricht eine Welt für ihn zusammen.
Die Szene entbehrt nicht einer gewissen Komik: Während Peter seinen Augen nicht traut, wundert sich die Kassiererin im Lebensmittelladen über den merkwürdigen Kunden im unangebrachten Spider-Man-Outfit, der hier offenbar einen Nervenzusammenbruch hat. Leider verpasst Bendis die Gelegenheit, den Peter von Earth-616 auf J. Jonah Jameson treffen oder ihn zumindest seine Artikel lesen zu lassen. Der cholerische Zeitungschef, der in der Hauptkontinuität seinen Privatfeldzug gegen Spider-Man führt, hat im Ultimate-Universum eine 180-Grad-Wende vollzogen. Als er sieht, wie Spider-Man während der katastrophalen Ereignisse von „Ultimatum“ (Ultimate Spider-Man #129–133) Leute aus dem Wasser rettet, obwohl die Welt um ihn herum untergeht, ändert er seine Meinung, stimmt ab diesem Zeitpunkt Lobeshymnen auf ihn an und revidiert ältere Verunglimpfungen. Dies hätte Peter bei all der Misere zumindest in seinem Glauben bestärken können, dass sich Menschen ändern können.
Stattdessen spitzt Bendis das Geschehen auf das Wiedersehen mit Tante May und Gwen Stacy zu. Als Peter auf einmal vor Tante Mays Haus steht, ist diese so aus der Fassung, dass sie Peter gleich einmal eine runterhaut. Erst Miles – der bereits weiß, dass Peter aus einer alternativen Realität stammt – kann May und Gwen davon überzeugen, dass es sich nicht um einen schlechten Scherz handelt. Nachdem sich alle beruhigt haben, setzen sich die vier zusammen und unterhalten sich: Wie ist Peters Leben verlaufen? Warum ist der andere Peter gestorben? Und was macht Gwen eigentlich in Tante Mays Haus? Auch wenn der gesamte restliche Band einfach nur aus diesen Gesprächen bestehen würde, wäre man als Leserin oder Leser vollends zufriedengestellt. Bendis‘ auf Dialoge fokussiertes „decompressed storytelling“ (das nicht immer gleich gut funktioniert), passt hier perfekt und sorgt für ein paar schöne emotionale Momente. (Tante Mays Satz „Wir hatten dich verloren, ohne uns verabschieden zu können, und nun bist du erwachsen“ hallt noch lange nach.)
Da es sich aber um einen Superheldencomic handelt, werden die Figuren bald vom Plot eingeholt (Nick Fury, Mysterio etc.), der dann auch mit ein paar Actionszenen garniert wird. Trotzdem wirken diese fast wie ein Nachgedanke, sie werden pflichtschuldig abgehandelt, wobei stets klar ist, dass es Bendis eigentlich um etwas anderes geht. Auch die Dynamik zwischen Peter und Miles ist gut getroffen, ihre Dialoge dürften vor allem eingefleischte Spidey-Fans zum Schmunzeln bringen, z. B. als Peter Miles den Tipp gibt, sich von keinem klonen zu lassen – eine Anspielung an die Clone-Saga – oder aus allen Wolken fällt, als er von Miles erfährt, dass sein Alter Ego Kitty Pryde gedated hat – eine Anspielung an Ereignise aus Bendis‘ Ultimate-Run.
Insgesamt fühlt man sich beim Lesen in den Händen von Bendis und Pichelli bestens aufgehoben. Man merkt auf jeder Seite, dass Bendis nicht erst seit gestern Spider-Man-Stories schreibt, wobei die detaillierte Strichführung der italienischen Zeichnerin Sara Pichelli dem Band seinen überwältigenden Look verleiht. Pichelli durfte Miles Morales damals zum ersten Mal der Comicwelt präsentieren (Ultimate Fallout #4, 2011), umso passender, dass sie bei der ersten Begegnung zwischen Miles und Peter ebenfalls federführend ist. Die perfekte Symbiose aus Story und Zeichnungen sorgt für ein flüssiges Leseerlebnis, das bei niemandem länger als eine Dreiviertelstunde dauern dürfte, vermutlich aber auch nicht allzulange in Erinnerung bleibt.
Dass der Cliffhanger am Ende nirgends mehr hinführen wird, sei an dieser Stelle übrigens verziehen. Zwar gab es 2017 ein Sequel vom selben Kreativduo, zu diesem Zeitpunkt war das Ultimate-Universum aber in der Folge von Jonathan Hickmans Secret-Wars-Event (2015–16) bereits Geschichte. Miles Morales wurde samt supporting cast jedenfalls in die Hauptkontinuität „hinübergerettet“, seitdem schwingen die beiden Spider-Men Seite an Seite durch New York.
Was wäre, wenn: Zwei Spinnenmänner ringen mit alternativen Lebensgeschichten.
Panini, 2024
Text: Brian Michael Bendis, Zeichnungen: Sara Pichelli
Übersetzung: Carolin Hidalgo
172 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 19,00 Euro
ISBN: 978-3-7416-3685-1
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