2151: Bevor die Raumfähre „soon 2“ zu einer Besiedlungsmission ins All startet, reist die Kommandantin Simone Jones (vermutlich: Simone wie der Zeuge der Zukunft, Jones wie der Geburtsname von David Bowie) mit ihrem ca. zwanzigjährigen Sohn Juri durch die nach ökologischen Katastrophen in fünf Zonen unterteilte, nur noch schwach bevölkerte Erde. Simone wird nicht zurückkehren und möchte, dass ihr Sohn ihre Entscheidung und die Welt, in der er lebt, begreift. Juri aber brennt durch und schaut sich zum ersten Mal das Leben außerhalb des rundumüberwachten goldenen Käfigs an, in dem er bisher gelebt hat.
Diese eher verhalten und atmosphärisch erzählte Geschichte wechselt sich ab mit Kapiteln im Stil leicht avantgardistischer Erklärcomics, in denen Juris bisherige Erziehung geschildert wird, was uns Einblick in die Grundlagen und Zusammenhänge dieser Dystopie gewährt.
Die Handlung ist kaum der Rede wert, und die schwer postmodernen Sachkapitel vermengen in meinen Augen (und ich mag so etwas) reichlich nervtötend Wissensdarstellung, Ironie und Erfindungen (und offensichtlich sehen die Lehrpläne für Geschichte in Frankreich vollkommen anders aus als bei uns, was manche Anspielungen unverständlich werden lässt). Aber das ist VÖLLIG EGAL.
Soon ist ein Comic, der, so abgegriffen es klingen mag, „zum Nachdenken anregt“, und das nicht auf eine zerquälte Art, dass du dich nachts im Sessel krümmst, sondern genussvoll und trotz aller ernster Themen gutgelaunt und leichtfüßig. Das ist kein Band zum Durchsuchten (wie wir Alten es nennen), sondern zum Hineinblättern und Nachlesen: Könnten Städte nicht auch so aussehen? Und gäbe es dann Seilbahnen?
Dazu passt, dass die Teile, zumindest für mich, häufig inspirierter und inspirierender sind, als das Gesamtwerk: Ich würde mir sofort Bilder vom schmutzigrot funkelnden „New Cape Town“ oder vom überwucherten „New Hefei“ an die Wand hängen, aber kaufe das Konzept von den „sieben Metropolen“ nicht. So witzig ich die Idee finde, dass in der Zukunft in der Tradition der „Sieben Todsünden“ vor sieben bösen farbigen Riesen gewarnt werden könnte („Den Leuten, die Grau bewunderten, war’s schnurzegal“), so wenig verstehe ich den theoretisch viel wichtigeren „Kontrakt“, den die BürgerInnen mit dem Staat eingehen. Und Juris Liebesaffäre schlägt in meinen Augen die theoretisch zentrale Mutter/Sohn-Thematik um Längen.
Aussehen tut das Ganze sehr zeitgenössisch und sehr ansprechend: vier Bildzeilen, eckige Sprechblasen, ganze Zeiten schillern in den etwas grellen, aber sehr geschmackvoll eingesetzten Grundfarben des Vierfarbdrucks.
Der Stil ähnelt am Ehesten David Mazzucchelli, wenn der keine Superhelden zeichnet, in Verbindung mit Ideen von Chris Ware und der „Nouvelle ligne claire“ der 1980er (und mich erinnert die verschnupfte Hauptfigur Juri ehrlich gesagt an Monsieur Jean von Dupuy und Berberian), ist aber ruppiger und organischer und insgesamt sehr eigen: Lichtschlieren auf dem Wasser sehen aus wie Lebewesen, Siedlungen erinnern an geduckte Tiere, manche Farbflächen sehen aus wie sonnengebleicht oder übermodert. Bilder von Gärten unter Plexiglas und Siedlungen im Wasser erinnern an scheinbar lässig hingescribbelte Konzeptzeichungen, aber bei genauerer Betrachtung tun sich überall kleine Irritationen auf. Entscheidende Details bleiben immer im Halbdunkel.
Jetzt kommt dieser Comic auf Deutsch zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt an, denn zur verwickelten Vorgeschichte von Soon gehört auch, dass im späten 21. Jahrhundert eine von niemandem bewusst gewollte Gesundheitsdiktatur als Reaktion auf eine Pandemie schreckliche Opfer gefordert hat und nie wirklich beendet wurde, weswegen das menschliche Leben aseptisch und einsam ist (und die wenigen verbliebenen Menschen sind beinahe alle unfruchtbar). Zusätzlich schildert der Comic in klassischer romantischer Manier den Ausbruch aus Beschränkungen, Sex mit Fremden und die Rebellion gegen Gesundheitsvorschriften als eine legitime Reaktion darauf.
So werden solche Geschichten eben seit gut hundert Jahren erzählt. Wir kennen es nicht anders, und das erklärt sicherlich zum Teil manche aktuellen Pauschalvorwürfe gegen die Corona-Politik der Regierung (dass es in der Menschheitsgeschichte bisher nie eine scheinbar freundliche Gesundheitsdiktatur gab, aber umgekehrt offen unfreundliche Diktaturen häufig auch das Gesundheitssystem als Möglichkeit zur Unterdrückung und Propaganda nutzen, fällt dabei in der Regel nicht auf).
Vermutlich brauchen wir neue Geschichten, und ganz sicher will Soon eine davon sein. Ist es nicht. Aber trotzdem schön.
Nachdenken kann Spaß machen. Freundlich-melancholischer Ideencomic mit schönen Bildern über die mögliche und die unmögliche Zukunft der Menschheit (Vorsicht: nicht coronatauglich!)
Carlsen, 2020
Text: Benjamin Adam, Thomas Gadène
Zeichnungen: Benjamin Adam
Übersetzung: Ulrich Pröfrock
240 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 29,- Euro
ISBN: 978-3-551-78760-6