BDSM. Bondage, Dominance & Submission, Sadism & Masochism. Ein paar Buchstaben kürzen ein, was sich in unzähligen, miefigen Hobbykellern, „Clubs“ an den Stadträndern und Schlaf- und Hotelzimmern auf der ganzen Welt abspielt: sexuelle Praktiken außerhalb der Norm. Sollte das Ausleben sexueller Fantasien ursprünglich „dekadenten“ Kreisen des Adels vorbehalten sein und waren Orgien einst besondere Events im Schatten zur Verschwiegenheit verpflichteter Geheimgesellschaften, so ist die sexuelle Perversion nun im Mainstream angekommen. Nachdem die digitale Pornografie in den vergangenen beiden Jahrzehnten einer berechenbaren und aus dem Sport abgeleiteten Sexualität der Rubbel-, Stoß- und Züngelmeisterschaft den Weg geebnet hat, womit der Erotik weitgehend das Wasser abgegraben wurde, sind es jetzt deviante Sexpraktiken, ehemals dunkel und gefährlich, denen der Zahn gezogen wird. Schmerz und Ekel sollen nicht mehr provozieren, sondern lieber kitzeln und erheitern. Womit wir bei Sonnenstein wären.
Ours is essentially a tragic age, so we refuse to take it tragically. The cataclysm has happened, we are among the ruins, we start to build up new little habitats, to have new little hopes. It is rather hard work: there is now no smooth road into the future: but we go round, or scramble over the obstacles. We’ve got to live, no matter how many skies have fallen.
D.H. Lawrence, Lady Chatterley
Ally und Lisa sind die Protagonistinnen von Sonnenstein, eine Serie, deren erste Ausgabe Einzug ins Albenprogramm von Panini gefunden hat und deswegen im großformatigen Hardcover erscheint. Eine der beiden jungen Frauen ist dominant, die andere devot. Sie lernen sich über anonyme Internetforen kennen und werden neugierig aufeinander. Schon zu Beginn des Bandes wird der Leser damit geködert, dass die etwas maue Exposition nur ein Vorspiel ist und man in den Hauptgängen auf seine Kosten kommen wird („Es kommt noch jede Menge heißer Lesben-Bondage-Sex!“). Das ist vielleicht nicht ganz ernst gemeint, aber vielleicht ja doch, denn bis zum ersten Aufeinandertreffen passiert arg wenig, eigentlich nur eines: Aufgeregtheit. Aufgeregtheit bei der Arbeit, Aufgeregtheit zu Hause, Aufgeregtheit am Tag des Dates, kurz vor dem Date, auf dem Weg zum Date, und dann, endlich, geht die Tür auf und nachdem sie noch ein bisschen mehr Aufgeregtheit (man kann nie genug davon haben) durchstehen, haben sie dann endlich: versauten Sex. Allerdings kriegen wir nur den Kick-Off und das Nachspiel mit, die heißen und die versauten Nummern dazwischen?
Werden ausgelassen.
Weil es eben kein Pornocomic ist.
ABER ABER ABER: HEISSER LESBEN-SEX??!!! Der Autor gab schließlich sein Wort! Man liest also weiter. Und die falsche Erwartungshaltung blättert langsam ab.
Zum Vorschein kommt eine mitunter charmante Coming-Of-Age-Story, in deren Verlauf die zwei jungen Frauen ihre nicht ganz konventionellen sexuellen Vorlieben zu erkunden beginnen. Und aus sexuellen Experimenten erwachsen Gefühle. Und diese münden in eine komplizierte Beziehung. Und dann kommt noch Allys Ex-Freund Alan, ebenfalls ein „Dom“, mit ins Spiel … Und, naja, kurz gesagt: Der Umgang der jungen Leute mit Sex und Gefühlen ist das eigentliche Thema von Sonnenstein. Es ist eine Liebesgeschichte.
„Vorurteile sind ganz schön scheiße.“
„Also, ja, verdammt, ich werde diese Frucht voller Lust genießen!“
„Ich bin auch schon so angeturnt, dass ich bald platze.“
Wenn Sprache einen Zugang zur erotischen Erfahrung ermöglicht, dann bleibt das Tor im Sonnenstein, ähem, erst einmal verschlossen. Leider. Aber Erotik lässt sich natürlich auch aus außergewöhnlichen Situationen ableiten, ebenso kann eine interessante, kontroverse Paarung zweier Persönlichkeiten ein schöner Aufhänger sein. Die Protagonistinnen in unserem Comic sind allerdings, abgesehen von ihrer Sexualität, relativ grob definiert. Eine von beiden ist Autorin von Young-Adult-Fantasy-„Literatur“, die andere Coderin, wobei ihre Berufe kaum eine Rolle spielen. Das Einzige, wofür es neben der Liebesgeschichte Raum im Comic gibt, ist die Nerdigkeit seiner Figuren: RPGs & LARPs, Fantasy-Literatur, Cosplay. Was Stjepan Šejić, Autor und Zeichner der Serie, suggeriert, ist, dass BDSM sich auch als eine besondere Form von LARP interpretieren lässt, einem Live-Action-Rollenspiel mit klaren Regeln und voller Zärtlichkeit. Etwas, das Freunde miteinander tun, um ’ne gute Zeit zu haben.
Šejićs Ansatz, BDSMler als „Sex-Nerds“ zu behandeln, ist nicht unoriginell und schafft eine gewisse emotionale Nähe. Ebenfalls kann man seinen Zeichnungen Charme und Wärme nicht absprechen, von mir aus auch einen manga-affinen, unschuldigen Sinnesreiz. Die Mimik ist lebendig, und der Erzählfluss kommt vor allem in der zweiten Hälfte des Bandes gut in Gang. Das Artwork als Ganzes wirkt für meinen Geschmack aber zu digital und kommt an manchen Stellen zu überhastet daher. Von Backgrounds oder einer ausgefeilten Kolorierung ganz zu schweigen.
Sunstone (so der Originaltitel), das als Serie von Fetischbildern auf DeviantArt begann, hat in den prüden USA durchaus für Furore gesorgt, sich recht ordentlich verkauft und der Karriere des ehemaligen Witchblade-Zeichners einen gehörigen Schub verpasst. Was natürlich alles schöne Sachen sind. Warum man das in Deutschland allerdings im Überformat braucht, wo sich das Original mit den üblichen Dimensionen von US-Heften begnügte, erklärt sich dadurch noch nicht. Vor allem, wenn man die Zielgruppe bedenkt: Es ist definitiv eine Lektüre für ein junges, manga-affines Publikum. Einen alten cisgender-white-man wie mich lässt das Ganze nämlich leider ziemlich kalt.
Wer nicht unbedingt das große Feuerwerk an Sinnlichkeit und Raffinesse erwartet und mit dem manchmal albernen und leicht hysterischen Erzählton klar kommt, wird bei Sunstone mit einer verspielten, zuckersüßen Liebesgeschichte belohnt.
Panini, 2015
Text & Zeichnungen: Stjepan Šejić
Übersetzung: Sandra Kentopf
128 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 24,99 Euro
ISBN: 978-3957984593
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