Beinahe klassischer Grusel vom Großmeister des Grotesken. Shiver von Junji Ito enthält zehn seltsame und unheimliche Geschichten in kühler Optik und mit wüsten Ideen.
Junji Ito dürfte nach dem (viel zu frühen) Ableben von Bernie Wrightson und Richard Corben (Kelley Jones ist noch einmal ein Fall für sich) der einflussreichste lebende Horrorzeichner im Comic sein. Doch dieser Status ist ein wenig irreführend: Itos verstörende Hauptwerke wie Uzumaki oder Gyo lassen sich kaum nacherzählen, befremden eher als dass sie erschrecken würden, und sie zählen, wie viele herausragende Horrorstoffe, vor allem deshalb zum Genre, weil alle anderen Schubladen noch weniger passen.
Shiver hingegen bündelt kürzere, ursprünglich größtenteils in Magazinen erschienene Gruselgeschichten vergleichsweise traditioneller Machart: Unbedarfte Figuren stolpern in abweisenden und öden Vorstädten (schräge Labyrinthe aus sauberen, spärlichen Linien) über seltsame Phänomene und geheimnisvolle Ecken (detailreich dargestellt im schattigen Dämmerlicht), forschen gebannt nach, anstatt wegzurennen und fallen folgerichtig unheimlichen Kräften zum Opfer, entweder buchstäblich, oder durch den Abstieg in Obsessionen und Wahnsinn (expressive schwarze Kleckse, die häufig für vergossenes Blut stehen).
Das klingt vergleichsweise unspektakulär, aber Itos Einfälle sind so ungewöhnlich wie die Nuancen von Faszination und Unbehagen, die er mit ihrer Hilfe erforscht. Beinahe alles liest sich wie neu und erscheint gleichzeitig als zwangsläufig. Ein Puppenspieler lässt sich von bezahlten Dienern an Fäden führen, um die Last des Lebens los zu sein. Ein schüchterner Junge entdeckt am rätselhaften Nachbarsmädchen, das zu ihm herüberwinkt, wachsenden, porösen Ausschlag. Wer die Schalplattenaufnahme anhört, die eine Sängerin angeblich unmittelbar nach ihrem Tod aufgenommen hat, verfällt ihr.
Hier wird mehr angerissen als ausgestaltet, aber echte Ausreißer gibt es dabei nicht. Auf die konsequent abstoßende Geschichte über Fett, für die sich der Meister selber im Anschluss entschuldigt, könnte ich allerdings getrost verzichten, und die Fabel über ein hässliches, mordendes Modell fällt im Vergleich etwas dünn und unangenehm misogyn aus (dummerweise ist ausgerechnet eine überflüssige Fortsetzung dazu die Bonusstory des Sammelbandes). Die Erzählung über das eifersüchtige Geistermädchen „Tomie“ ist ungewöhnlich konventionell, aber allein schon deswegen interessant, weil sie die Keimzelle eines ganzen späteren multimedialen Franchise darstellt.
Angaben zu Ort und Zeit der Erstveröffentlichung wären nicht nur in diesem Zusammenhang interessant, aber fehlen bedauerlicherweise komplett. Dafür enthüllt Ito für jede Geschichte auf einer Seite seine ursprünglichen Entwürfe und Ideen. Verblüffenderweise scheinen seine ersten Skizzen für Erzählungen dabei immer deutlich komplizierter zu sein, als die betont einfachen Geschichten verraten lassen, während die einer Idee zugrunde liegende Verstörung schon sehr früh erfasst und bereits sehr spezifisch in eine graphische Skizze umgesetzt wird. Ito scheint nicht vom Bildeinfall an sich auszugehen, ihn aber sehr früh zu finden, und diesem Denken in höchst originellen Bildern können wir deutlicher bei der Arbeit zusehen als in seinen ausufernd abdrehenden längeren Werken. Während zumindest mir dort der emotionale Zugang bei aller Faszination nicht immer gelingt, wird in Shiver sehr deutlich, welches Unbehagen angesichts des Alltags, welche satirischen Beobachtungen, romantischen Wünsche und zwischenmenschlichen Ängste im Kern von Itos Arbeit stehen.
Ein Einfall wie der, dass riesenhafte Ballons mit den Konterfeis der Bewohner einer Stadt am Himmel schweben und ihre menschlichen Ebenbilder mit den Ballonschnüren erdrosseln, bleibt trotzdem so bizarr wie einzigartig. Und mein Favorit ist die ebenso einleuchtende wie abwegige Idee von immer länger werdenden Träumen, die vom Surrealen ins Psychedelische übergehen und dabei jede Deutung weit hinter sich lässt.
Zeichnerisch verzichtet Ito im Vergleich zu sonst und im Vergleich zu seinen Kolleg*innen weitgehend auf Bodyhorror (auch wenn er sich mit einem Raupenwesen vor Hideshi Hino zu verbeugen scheint). Hier sind viele Bilder hässlich und erschreckend, aber wer klinisch ausgemalte Verformungen und Mutationen erwartet, kommt hier kaum auf seine Kosten. Die Geschichten sind stilistisch unterschiedlich angelegt, aber die grundsätzliche Optik ist hier irreführend gewöhnlich und erinnert beinahe an ältere Mangas für jüngere Leser, bevor die Artefakte und Fratzen des Unheimlichen plastisch, dunkel und ziseliert in die schnöde Harmonie einbrechen.
Das Ergebnis ist guter moderner Grusel, grimmig humorvoll, aber ohne jedes postmoderne Augenzwinkern. Beinahe verhalten, beinahe distanziert, aber im entscheidenden Moment dann doch schrecklich packend und voll vom ambivalenten Vergnügen am Unkonventionellen denkt Ito über Entfremdung nach. Das Gewöhnliche ist schlimm, alles andere ist schlimmer. Diese konventionelle Horrorüberzeugung wird hier so einfallsreich, schillernd und abgründig neu formuliert, dass wir uns bei aller Bedrückung nicht nur angenehm gegruselt, sondern ein bisschen befreit vorkommen können. Das ist vielleicht für ein Werk von Ito ein bisschen wenig, aber wer das Genre liebt, auch ohne Spinnweben, kann hier viel entdecken.
Unheimliche Gedankenspiele voll von pechschwarzem Humor. Kluger, aber teilweise derber Horror in kleinen Portionen von einem brillanten Grenzgänger des Genres.
Carlsen, 2021
Text und Zeichnungen: Junji Ito
Übersetzung: Jens Ossa
400 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 24,00 Euro
ISBN: 978-3-551-75656-5
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