„Der Weltraum – unendliche Weiten“ lauten die verheißungsvollen, einleitenden Worte jeder Star Trek-Episode. Das erinnert nicht von ungefähr an den amerikanischen Mythos der offenen Grenze, von der Welt im Westen, die es noch zu entdecken und erobern gilt. Die Science Fiction hat diesen Mythos schon oft wiederbelebt, am prominentesten vielleicht Ray Bradbury in seinen Mars-Chroniken. Aber andere SF-Erzählungen, ob Dune, Saga oder Star Wars haben uns auch gezeigt: Ist das All erst einmal besiedelt, dann kommen die gleichen Konflikte wieder zurück, die bereits den einen – eigentlich großen – Planeten Erde auf eine eigenartig beklemmende Größe zusammenschrumpfen ließen. Und dann wird aus dem verklärten Traum vom Neuanfang „da draußen“ das, was wohl eher der Realität entspricht: Die Ungewissheit eines Flüchtlingsschicksals, die einhergeht mit minimalem Gestaltungsspielraum bei gleichzeitig maximaler Abhängigkeit von Anderen.
In eine solche Welt wirft uns der junge Comic-Künstler Paul Rietzl in seinem neuen Buch Shipwreck. In dieser kleinen Weltraum-Parabel findet sich nur wenig Aufbruchs- und Expansionsstreben. Das galaktische Gesellschaftsgefüge ist längst zusammengebrochen und die nach dem Krieg übriggebliebene (raumfahrende) Gesellschaft klammert sich an Fragmente und Errungenschaften der ehemaligen Kultur, die sie nicht mehr recht versteht. Gerade deswegen ist in dieser Gesellschaft alles festgezurrt in Konventionen und Ritualen, die keinen Sinn mehr stiften können und trotzdem alles überlagern. Wer dies in Frage stellt, riskiert sein Leben. Wer dagegen opportunistisch genug ist, kann es weit bringen. Shipwreck handelt von einem, der den Aufstand wagt, dieser Welt den Rücken kehrt und einen Neuanfang sucht. Irgendwo.
Es ist nicht das erste Mal, dass sich Rietzl mit dem politischen Thema Flucht und Heimat auseinandersetzt (siehe hier), dennoch ist zum ersten Mal alles anders: Er hat sich einen an Frank Miller erinnernden Stil angeeignet, er verklausuliert sein Anliegen geschickt in einem attraktiven SF-Setting, vor allem aber hat er sich bei seiner Erzählung für ein Format entschieden, das den herkömmlichen Rahmen sprengt. Ermöglicht wurde ihm dies durch den kleinen Berliner Indie-Verlag Round not Square, wo man sich auf Buchproduktionen in Form von Buchrollen spezialisiert hat. Das war schon bei den bisher dort erschienenen Bildbänden in Rollenform ein Kuriosum, knüpft aber spätestens jetzt, wo die erste Graphic Novel des Hauses vorliegt, konsequent am Konzept der „Endlosen Leinwand“ an, einem Gestaltungsmittel, das vor allem durch Scott McCloud bekannt wurde.
Bisher trat die „Endless Canvas“ eher im digitalen Comic in Erscheinung, sieht man einmal von Joe Saccos The Great War ab, einem Endlospanorama, das in Form eines Zickzackfalzes zwischen Buchdeckeln veröffentlicht wurde und welches auf dem Comicsalon Erlangen 2014 auch schon in mannshoher Vergrößerung installiert wurde. Der bekannteste Vertreter der digitalen „Endless Canvas“ ist hierzulande sicher Daniel Lieske, dessen Canvas-Comic Wormworld bei Popcom jedoch in konventioneller Buchform erscheint. Leider, möchte man fast sagen, denn der gerollte Endlosbogen, der nun in analoger Form bei Round not Square verlegt wird, zeigt, wie man einen Comic, der die Konvention der Seitenarchitektur sprengt, auch präsentieren kann. Ob das Format sich auf dem Markt durchsetzen wird, wage ich zwar zu bezweifeln, aber erstens ist es für limitiertes Material eine äußerst reizvolle Variante und zweitens ist vielleicht gerade ein Alleinstellungsmerkmal etwas, was ein junger Verlag dringend benötigt.
Neben Scott McCloud und seiner „Endless Canvas“ war aber, wie oben schon erwähnt, offensichtlich auch Frank Miller ein wichtiger Einfluss. Weit mehr als an Daniel Lieske erinnern Paul Rietzls Breitwand-Panoramen nämlich an Millers ebenfalls querformatiges 300, in dem Miller bereits die starren Konventionen einer Comicseite so weit wie möglich aufsprengte. Zudem erinnern Rietzls Bilder mehr als einmal an die Cover, die Miller bereits in den 1980ern für die amerikanische Ausgabe von Lone Wolf and Cub gestaltet hat. Und überdeutlich zeigt sich Millers Einfluss auch an der sehr Miller-typischen Darstellung der Hände der Figuren.
Paul Rietzl erzählt in Shipwreck pointiert und plakativ – noch eine Eigenschaft, die ihn mit Miller verbindet. Dessen spätestens seit den Neunzigern charakteristische politische Inkorrektheit und teilweise auch Fahrigkeit allerdings sucht man vergeblich, Rietzl wirkt im Gegensatz dazu ernsthafter und disziplinierter. Auf den letzten Metern der Erzählung gelingt ihm außerdem das Kunststück, gleich mehrere Wendungen einzubauen, was den Comic zu einer rundum gelungenen Erzählung werden lässt, die bis zuletzt fesselt. Damit ist der erste Comic in der Rolle weit mehr als nur ein kleiner Gag. Shipwreck verdient es, von vielen gelesen zu werden.
Shipwreck ist eine einnehmende Geschichte, die auf dem ungewöhnlichen Trägermedium Papierrolle ausdruckstark präsentiert wird. Beachtenswert.
Round not Square, 2016
Text und Zeichnungen: Paul Rietzl
Format: 20cm x 15 Meter Rolle, farbig
Preis: 28 Euro
keine ISBN
Leseprobe
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