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Outline

Kohlrabi, Gottfried Benn und der ÖPNV – der Coming-of-age-Comic Outline von Michèle Fischels hat es wirklich in sich.

Alle Abbildungen © Reprodukt

Es gibt eine lange Liste von Abi-Slogans, die ähnlich geschmackssicher sind wie Friseursalons oder die Titel von Pornofilmen: „Abividerci“, „LABIrinth – Planlos zum Ziel“ oder (mein Favorit mit großem Abstand, weil er die Erntehelferqualitäten der Absolventen betont) „KohlrABI – Wir räumen das Feld!“ In outline, dem Comic-Debüt von Michèle Fischels, geht es um Jugendliche auf dem Weg zum Abitur.

In ihrer gegenseitigen Verliebtheit werden Ben und Clara gleich noch etwas cartooniger als sonst.

Ben ist ein mathematikbegabter Rotschopf, der mit Clara zusammen ist. Seine Freundschaft mit Andreas, dem zurückhaltenden Klassenpoeten und Aspiranten für die Abi-Abschlussrede, ist zwei Jahre zuvor zerbrochen. Die Clique und Ben und Andreas hat nie verstanden, warum die beiden sich auseinanderentwickelt haben, aber wir ahnen schnell, dass Andreas‘ unausgesprochene Gefühle für seinen besten Freund eine große Last für ihn waren. Seither hat er sich in eine gewaltsame Beziehung geflüchtet, deren einziger Segen zu sein scheint, dass sie vor allen Menschen, die Andreas liebt, geheim bleibt.

Ben ist wiederum mit Clara zusammen, deren großen Geheimnis darin besteht, nach ihrem Abitur ein Studium in Rotterdam aufzunehmen. Wir Leser:innen werden lange im Dunkeln über ihr Geheimnis gehalten und sind letztlich so überrascht wie Ben, der längst weiß, das da irgendwas im Busch ist.

Jugendlichenzeugs auf dem Raucherschulhof

Die Jugendlichen machen Jugendlichenzeug: feiern am See, messen sich beim Sport, haben Sex und kellnern in irgendwelchen Restaurants. In kreativen Momenten überlegen sie sich natürlich auch einen einzigartigen Abi-Slogan, in diesem Fall ist das „Wasabi – scharf im Abgang“. Und am Ende so eines Abiturjahres steht notwendigerweise die Abschlussrede. Andreas wurde auserwählt und wagt sich an eine Auslegung des Gedichts „Reisen“ aus dem Jahr 1950 von Gottfried Benn, übrigens auch ein Abi-Prüfungs-Klassiker. Das Gedicht, das im Comic nicht vollständig abgedruckt ist, lautet wie folgt:

Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?

Meinen Sie, aus Habana,
weiß und hibiskusrot,
bräche ein ewiges Manna
für Ihre Wüstennot?

Bahnhofstraßen und Rueen,
Boulevards, Lidos, Laan –
selbst auf den Fifth Avenueen
fällt Sie die Leere an –

ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.

Andreas geht mit Benn und dem ersten Satz des Gedichts hart ins Gericht: „Der Satz vermiest uns gleich zu Beginn schon die ganze Reiseromantik.“ Damit hat er natürlich vollkommen recht, schließlich ist der expressionistische Benn von der Romantik einigermaßen weit entfernt, und die Welterfahrung des Reisens findet hier kein euphorisches Lob: „vergeblich das Fahren“. Die Reise der Figuren in outline hat mit Kofferschleppen wenig zu tun, sehr wohl aber mit der Last, die jede:r mit sich herumträgt: „Jede Form von Reise ist ein Prozess.“

Der Weg zum Abitur (von lat. abire ‚weggehen‘) ist für Ben, Clara und Andreas eine Suche nach ihren Lebenszielen. Seinen Ausdruck findet diese Wegmetapher in den Bushaltestellen. Die im Buch (wie auch auf dem Cover) immer wiederkehrenden Bushaltestellen sind ein Ort sowohl des Stillstands als auch des Aufbruchs. Auch die Jugendlichen sind auf einer Durchfahrt, sie pendeln noch nicht wie Erwachsene, sondern schweifen ziellos umher. Eine Road Novel im ÖPNV.

Bei Bussen und Straßenbahnen wissen wir ziemlich genau, wohin sie uns führen. Bei Lebenswegen ist das grundsätzlich anders.

Besonders eindringlich ist der Moment, als Andreas Ben seine Liebe gesteht, indem er etwas umständlich ausdrückt: „Die einzige Orientierung, die ich hab, nützt mir gar nichts.“ Auch die ersten erotischen Kontakte sind sehr einfühlsam dargestellt: eine Hand hier, ein Rücken dort, wie eine diffuse Wahrnehmung, die den Fokus mal hier und mal dort hat.

Die nur sparsam eingefärbten Zeichnungen erinnern ein wenig an den reduzierten Stil des italienischen Zeichners Gipi (Die Welt der Söhne), auch durch eine vergleichbare Erzählhaltung. Frischels ist wenig auf Effekte, Spannung oder Pointen bedacht, sondern erzählt mit großer Gelassenheit von Begebenheiten, die kaum der Rede wert scheinen. Und ebenso lakonisch sind auch die Gaga-Dialoge, die schmerzhaft-sinnlos wären, würde ihre Glaubwürdigkeit einen nicht zugleich berühren: „Läuft bei euch, wa? – Siehste doch! – Alles okay? Weinst du? – Das sind die Scheißkontaktlinsen! – Woah, Wutbürger …“ Authentische Gespräche an der Grenze zum Rumlabern mit der poetischen Kraft von Abislogans (ausgenommen natürlich der geniale Kohlrabi-Spruch). Das nervt manchmal fast, erzeugt aber die richtige Stimmung.

Der Comic ist übrigens die Weiterentwicklung des englischsprachigen Webcomics Fault Line, den Frischels im April und Mai 2021 veröffentlichte. Der Grundkonflikt zwischen Andreas und Ben sowie die Dreiecksgeschichte mit Clara stehen darin im Mittelpunkt, und auch die Namen und das Aussehen der Figuren entsprechen denen in outline.

Oben sehen wir Ben, Andreas und Clara in outline. Unten sind Ben, Clara und Andreas in dem Webcomic Fault Line (2021) zu sehen.

Dieser Debüt-Comic von Michèle Frischels, die an der Fachhochschule Münster Design studiert hat, ist völlig begeisternd und wurde zurecht auf Platz 3 der Comic-Bestenliste im dritten Quartal 2024 gewählt.

Wahnsinnsdebüt!

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Reprodukt, 2024
Text und Zeichnungen: Michèle Fischels
208 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 24,00 Euro
ISBN: 978-3-95640-429-0
Leseprobe

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