Nemo reloaded – zehn Jahre nach dem vermeintlichen Tod des berühmten U-Boot-Kapitäns müssen der Mann und sein Boot wieder zurück ins Licht der Öffentlichkeit. Die dreiteilige Serie Nautilus ist keine Jules-Verne-Adaption, sondern eine Fortschreibung.
Im Jahr 1899 stehen sich das russische Zaren- und das englische Königreich in einer Art von Kalter Krieg gegenüber. Sie begegnen einander in diplomatischer Höflichkeit, kämpfen aber um die Macht der britischen Kolonie Indien. In diesem fiktiven alternate-history-Setting führen Spione und Doppelspione einen unsichtbaren Informationskrieg gegeneinander. Der irische, in Indien großgewordene Kimball O’Hara befindet sich auf einem Luxusdampfer im Hafen Bombays, als er einen Spion entdeckt und unter Deck verfolgt. Zwar kann er seine Identität nicht lüften, aber er beobachtet, dass Geheimdokumente in einem Tresor verborgen werden.
Wie bedauerlich, dass ein Torpedo das internationale Bankett auf dem Dampfer vorzeitig beendet und Dutzende russischer wie englischer Landsleute in den Tod reißt. Kimball kann entkommen und nimmt das Wissen um den wertvollen Tresor, der in dem außerordentlich tiefen Hafenbecken verschollen ist, mit sich.
Kimball wird nun verhaftet, weil man vermutet, er trage die Schuld an dem Untergang des Schiffes, um den untergründigen Konflikt zwischen den Nationen zum Ausbruch zu bringen. Zwei Konflikte ergeben sich daraus: Kimball begibt sich auf die Flucht, um seiner Verhaftung durch Jaya zu entgehen. Und es droht ein internationaler Krieg, der nur verhindert werden kann, wenn Kimball seine Unschuld zu beweisen versteht. Nun kommt die Nautilus ins Spiel, denn nur mit diesem U-Boot könne Kimball den Tresor bergen, um in den Besitz der geheimen Papiere zu gelangen.
Kimball begibt sich nun nach Sibirien, weil er in einem sehr abgelegenen Gefängnis den verstorben geglaubten Kapitän Nemo zu finden hofft. Dieser sei nämlich nicht gestorben (wie in Jules Vernes Roman Die geheimnisvolle Insel), sondern befinde sich in russischer Haft. Dort angekommen, überzeugt er den Gefängnisdirektor Ostrov, in einer Nachbarzelle Nemos eingesperrt zu werden, um erstmals Informationen von dem schweigsamen Kapitän zu gewinnen.
Jules-Verne-Adaptionen haben es nicht leicht. Sie scheitern oft dann, wenn sie versuchen, das Flair der Romane einzufangen, indem sie die Abenteuerhandlung in den Vordergrund stellen. Denn dabei übersehen viele, dass der Reiz der Romane zwar sicherlich auch in den abenteuerlichen Szenen besteht, die Spannung erzeugen, dass aber das Besondere an Jules Verne ist, dass seine Wissenschaftsromane eine Mischung aus Actionhandlung und Sachbuch sind. Seitenlange Passagen über die Meeresfauna und geographische Besonderheiten machen 20.000 Meilen unter dem Meer zu einem abwechslungsreichen Roman, nicht der Kampf gegen den Riesekraken. Natürlich können Adaptionen auch ganz eigene Wege gehen, aber das entlässt sie natürlich nicht aus der Pflicht, etwas Besonderes an die Stelle des Weggelassenen zu setzen. An dieser Herausforderung ist Thilo Krapps Adaption (hier rezensiert für den Tagesspiegel) gescheitert, andere (etwa Gary Gianni oder Ramón de la Fuentes, hier rezensiert) haben es zumindest teilweise versucht.
Die Serie Nautilus ist eben keine klassische Adaption, sondern schreibt die Handlung fort, so wie es etwa Michael Mikolajczak mit dem Sandmann von E.T.A. Hoffmann getan hat (hier rezensiert für Comicgate). Das ermöglicht Mathieu Mariolle natürlich so manche Freiheiten. Das Ergebnis ist aber kein postmoderner Patchwork-Comic wie Alan Moores Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen, sondern ein abenteuerlicher Spionagecomic, auf dessen letzter Seite wir schließlich die Nautilus sehen werden.
Wobei es doch ein wenig mehr Patchwork ist, als man auf den ersten Blick denkt, denn nicht nur Kapitän Nemo ist eine literarische Figur, auch Kim O’Hara entspringt nicht der Phantasie Mariolles. Es handelt sich dabei um den Titelhelden des Romans Kim (1901) aus der Feder des britischen Schriftsteller Rudyard Kipling, der besser bekannt ist für Das Dschungelbuch (1894). Mariolle führt also die fiktiven Biographien von Nemo wie auch von Kim fort.
Die Spannung ergibt sich aus den Konfrontationen zwischen Kimball und seinen Kontrahenten, also Jaya, Ostrov und Nemo, denn stets muss er sich mit besonderer List gegen die feindliche Überzahl, gegen die Widrigkeiten der unbeugsamen Natur und gegen die ins mythische überhöhte Verschlagenheit Nemos erwehren. Das ist soweit nicht langweilig.
In seinem Nachwort erläutert Mariolle die Entstehung von Nautilus: „Ich habe die Romane, aus denen Kim und Kapitän Nemo entstammen, in derselben Lebensphase gelesen, zu Beginn meiner Jugend.“ Eine andere Frage ist aber, wie plausibel die beiden Plots in der aktuellen Serie miteinander verknüpft werden. Die Notwendigkeit, für einen versunkenen Tresor rund um die Welt zu reisen, um zunächst einen totgeglaubten Kapitän zu befreien und dann dessen U-Boot für die Bergung zu verwenden, ist … nun … nicht gerade naheliegend. Zumal fraglich ist, ob das einen Krieg wirklich verhindern würde – immerhin würde Kimball damit den Beweis für die Spionagetätigkeiten ans Licht bringen. Die folgenden Bände werden es zeigen.
Die Zeichnungen von Guénael Grabowski sind ohne Frage sehr abwechslungsreich, er führt uns durch sehr detailfreudige Winter- und Südseelandschaften oder in finstere Gefängnisse. Indem er den mysteriösen Nemo weitgehend im Verborgenen lässt, erhält er dessen mythischen Nimbus. Insofern ist Nautilus für den Zeichner ein sehr gelungenes Comic-Debüt, wenngleich die grimmig-zähnefletschenden Gesichter schon arg stereotyp sind.
Die Serie erschien zuerst zwischen 2021 und Mai 2023 bei Glénat. Bei Splitter sind derzeit Band 1 („Das Schattentheater“) und 2 („Mobilis in mobile“) erschienen.
Nemo reloaded
Splitter Verlag, 2022
Text und Zeichnungen: Mathieu Mariolle, Guénael Grabowski
Übersetzung: Tanja Krämling
62 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 16,00 Euro
ISBN: 978-3-96792-300-1
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