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Minnie Maus – Tante Mirandas Geheimnis

Der Westschweizer Cosey ist der Wim Wenders der Comics. In seinem Werk gibt es allerdings weniger Männerfreundschaften und Autos, dafür sehr viel mehr Romantik, Berge und Humor. Sein Hauptwerk Auf der Suche nach Peter Pan (1984) über einen Aussteiger nach dem Ersten Weltkrieg ist ein Comic für die sprichwörtliche einsame Insel. Für jede einsame Insel.

© Egmont

Dieser Meister der (hier stimmt das Wort einmal) meditativen Momente, der unauffälligen Naturmystik und der feinnervigen Psychologie hat seinen zweiten nostalgischen Disney-Comic vorgelegt. Das klingt erst einmal so, als würde Wim Wenders einen James Bond drehen, nur charmanter und nach weniger Geld. Tatsächlich ist Minnie Maus – Tante Mirandas Geheimnis noch besser geworden als der großartige Vorgänger Eine geheimnisvolle Melodie : Oder: Wie Micky seine Minnie traf. Der opulent gestaltete Band mit Leineneinband, einem Cover aus schwerer Pappe und Seiten aus porösem Karton, ist das stilsichere und schöne Bilderbuch, das besonders diesem Jahr bisher gefehlt hat: Tiefblaue Berge voller Schnee und glimmender gelber Lichter in etwas eckiger Optik  mit dicken schwarzen Strichen. Figuren und Dekor sehen aus wie in den ersten Micky-Maus-Filmen aus den 1920er/1930er – Jahren, nur in leuchtenden Farben und besser gezeichnet. Minnie trägt noch ihr fesches Hütchen mit eingesteckter Blume und Kater Karlo hat immer noch ein Holzbein.

Minnie erhält einen Brief, in dem ihre 104 Jahre alte Tante Miranda ankündigt, zum ersten Januar ihr Haus in den Bergen verkaufen zu wollen. Minnie, ohnehin etwas genervt vom Vorweihnachtstrott, macht sich (mit einem schicken alten Motorrad) auf ins Gebirge, um das geheimnisvolle schwarze Buch von Tante Miranda in ihren Bezug zu bringen. Mit dabei: ihre beste Freundin Klarabella Kuh. In der schneeverwehten Winterlandschaft der Berge finden die beiden heraus, dass Tante Miranda nach dem legendären Schneemenschen Bigfoot geforscht hat. Und dass der wohlbekannte Kater Karlo die Gegend als grimmiger Goldgräber unsicher macht.

Abb. aus der französischen Originalausgabe; © Glénat

Story und Dialoge könnten beinahe aus einem alten Disney-Cartoon stammen, entpuppen sich bei näherer Betrachtung jedoch als eine erwachsene und zeitgemäße Analogie dazu, ein liebevolles Update für Kindsköpfe wie uns. Aber natürlich sind überall Easter Eggs versteckt: Minnie denkt darüber nach, wie schön Micky pfeifen kann (was angesichts seines ersten, ohrenzerfetzenden Filmauftritts einiges über den Musikgeschmack von Mäusen aussagt), und in einer Hommage an E.T. verstecken sich (neben einem Schneemenschen) Stofftiere von Ferkel und dem bösen Fuchs aus Pinocchio.

Der weitere Fortgang der Erzählung wird wohl niemanden überraschen, der das schulpflichtige Alter schon erreicht hat, aber darum geht es ja nicht. Dieses süffige und sorgfältig zusammengeträumte Urbild eines (scheinbaren) Kindercomics ist viel eher das Äquivalent zu einem Lieblingsalbum mit Musik. In diese Richtung gingen Coseys Arbeiten schon immer, und hier präsentiert er sich poppiger als sonst und erfindet (mit der quirligen Minnie anstelle seiner sonst üblichen introvertierten Hauptfiguren) prompt eine eigene Art von trügerisch anheimelnden und heimlich prickelndem Avantgardepop: Durchgelegene Betten sahen noch nie gemütlicher aus, geisterhafte frühere Goldgräberstädte noch nie so lebensecht spukig, und die frühe Minnie mit ihren schwarzen Augen und Spaghettiarmen wirkte einerseits noch nie so ikonisch, andererseits noch nie so glaubwürdig.  Dazu scheint Cosey atmosphärische Landschaften nur so aus dem Ärmel zu schütteln. Alle Einzelheiten sind hier Zutaten für einen perfekten Traum: von eingefrorenen Wasserfällen über umgestürzte Bäume auf der Straße bis hin zu Tante Mirandas malerischem, halb unter Schnee verborgenen Haus. Dieses Spiel damit, jedes Bild einerseits vertraut und andererseits neuartig erscheinen zu lassen (Cosey spielt pausenlos u.a. mit Bildausschnitten und Blickwinkeln) wird auf die Spitze getrieben, wenn einprägsame Szenen aus Auf der Suche nach Peter Pan noch einmal mit Minnie und Klarabella nachgebildet werden.

Ins sonst so lückenlos stimmige Design scheint mir der junge Schneemensch nicht so ganz hereinzupassen und eher an eine Figur von Coseys Kollegen Derib zu erinnern. Dazu empfinde ich den frühen, noch nicht ganz so sympathischen Goofy in einem Gastauftritt als Fremdkörper. Die Story ist  dann doch kaum mehr als ein Vorwand, manche Dialoge führen nirgendwohin, nicht alle Witze sind lustig. Aber das sind Nickeligkeiten.

Dieser Band ist eine (milde) Droge ohne Nebenwirkungen. Dieser Band ist Weihnachten.

Und, mal ganz ehrlich: Hat irgendwer sich vorher schon einmal Gedanken darüber gemacht, ob die Lebensphilosophie von Klarabella Kuh nicht vielleicht doch ein klein bisschen einfach ist?

Kunstvoller und frischer Wohlfühlcomic mit Retrocharme. Wer’s mag, kann damit sehr glücklich werden.

9von10Minnie Maus – Tante Mirandas Geheimnis
Egmont Comic Collection, 2020
Text und Zeichnungen: Cosey
Übersetzung: Ulrich Pröfrock
256 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 29,- Euro
ISBN: 978-3-7704-4095-5

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