Vampire, Werwölfe, Zombies – unsere Gruselklassiker speisen ihre Kraft aus dem Dazwischen, in dem sie angesiedelt sind. Noëlle Kröger hat dieses Potential in Meute genutzt.
Die Handlung spielt in einer unbestimmten Zeit an einem unbestimmten Ort, ganz offensichtlich ist die Story gerade nicht in einem konkreten historischen Setting verortet, wenngleich der technologische Stand, die Architektur und die Mode auf die auf die Zeit um 1900 hindeuten. Der Umschlagtext zementiert diese Andeutung, die im Buch selbst gar nicht verifiziert wird: „Ende des 19. Jahrhunderts steht die Forschung kurz vor einem wichtigen Durchbruch.“
Am Institut für zeitgenössische Wissenschaften beschäftigen sich die führenden Forscher mit dem Wissen von morgen. Und als Margot sich auch qualifiziert, Teil dieser akademischen Elite zu werden, reduzieren die Herren sie aufs Teekochen: „Das wird ein lehrreiches Praxissemester für Sie. Willkommen bei uns im Institut. Tee kochen können Sie sicher auch, ja?“ Sie wird sich aber nicht in der Physik weiterbilden, in der Chemie oder der Medizin, sondern soll auf das seltene Exemplar eines Werwolfs aufpassen, das in die Fänge der Wissenschaftler geraten ist.
Die Handlung folgt im Wechsel Margots Perspektive und derjenigen eines vor den Toren der Stadt lebenden Wolfsrudels. Die Wölfe, darunter Renard, Rémy und Étienne, sind unglücklich, weil der gefangene Wolf einer der ihren ist: Versailles. Die Wissenschaftler nähern sich dem Wesen nicht mit Mitgefühl, sondern mit Messinstrumenten und Modellen, die den Übergang vom Menschen zum Wolf und andersherum erklären sollen. Ein wenig King-Kong-Flair weht durch den Vorlesungssaal, als Versailles im Käfig vorgeführt wird.
Ein besonderes Interesse an dem Wolfsrudel hegt der Bürgermeister, weil seine Tochter verschwunden ist und er sie als Opfer der Wölfe vermutet. Dass sie sich ganz freiwillig dorthin begeben hat, um die Transformation selbst mitzumachen, kann der ahnungslose Vater da noch nicht ahnen. Nur Margot wird Zugang zu dem Wolfsrudel erhalten und wird den Konflikt zwischen den ängstlichen Stadtmenschen und dem freiheitsliebenden Wolfsrudel entschärfen. Aber ein Happy End erwartet uns Leser:innen dennoch nicht: „Verstehst du nicht? Man redet immer noch über uns … niemals mit uns. – Aber hätten wir etwas anders machen können? – Ich weiß nicht. Bestimmt. Aber noch wahrscheinlicher. Nein.“ Und schließlich richten alle Augenpaare der Hauptfiguren sich auf uns, die wir vor dem Comic sitzen: „Oder?“
Die Zeichnungen ziehen einen unwillkürlich in ihren Bann, schon deshalb, weil Noelle Kröger ihren Stil sehr variantenreich aufs Papier bringt, mal sehr skizzenhaft und schwarzweiß, mal detaillierter, mal sehr beherrscht, andere Male äußerst dynamisch. Vor allem die Werwolfsequenzen mit den überlangen Wolfskörpern und ihren unbeherrschbar über die Panelrahmen hinausragenden Körperteilen sind beeindruckend.
Die Wölfe bilden ein Rudel, die Meute aber sind die Menschen, durchaus tierähnlich in ihrem impulsivem Verhalten. Es ist gut denkbar, dass Kröger diesen Begriff Elias Canettis philosophischem Hauptwerk „Masse und Macht“ (1960) entnommen hat, denn auch ihm geht es um die Meute als menschliches Gegenstück zum Wolfsrudel und Vorstufe der Menschenmasse. Und vor allem ist diese menschliche Gemeinschaft eine Jagdmeute, die nur die Beherrschung des von Konventionen befreiten Wolfsrudels im Kopf hat. Die Leute sind die Meute.
Kröger hat schon in ihren vorigen Comics ein Faible für anthropomorphe Wesen und auch für Werwölfe bewiesen: „Der Werwolf kann so viel sein – meist ist er in Geschichten in der ein oder anderen Form die Personifizierung eines unterdrückten Gefühls. Mein unterdrücktes Gefühl war meine Transgeschlechtlichkeit.“
Es muss gar nicht deutlich gesagt werden, dass das Thema dieses Comics vor allem die Problematisierung eines binären Geschlechtsmodells ist. Die Werwölfe sind ein Zwischenstadium zwischen Mensch und Tier, werden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und von den Wissenschaftlern nicht verstanden. In einem Interview äußerte sich Kröger dazu: „Dabei ist es mir wichtig, keine Zeigefinger-Position einzunehmen, sondern dem Thema mit seiner Komplexität gerecht zu werden.“
Aber wie differenziert und komplex sind die Figuren denn eigentlich? Die teekochende Wissenschaftlern Margot, die bis ins Klischee verzerrten Wissenschaftler, der gigantische Machtmensch von Bürgermeister. Die Figuren bleiben doch einigermaßen schablonenhaft und lösen das Versprechen höherer Komplexität nicht recht ein. Mit Ausnahme vielleicht noch von Margot gibt es keine Figuren mit biografischer oder psychischer Tiefe – vor allem die Männer sind sehr flach geraten. Und der abschließende Appell an die Leser:innen ist zwar rein visuell kein Zeigefinger, fordert aber dazu auf, die „Moral von der Geschicht“ auch auf die eigene Lebenswirklichkeit zu übertragen. Es ist eben doch eher eine Allegorie oder Fabel mit einer deutlichen Botschaft als eine Beschäftigung mit einzelnen Charakteren.
Was den Comic visuell aus der Masse so sehr hervorhebt, verspielt er mit einer schlichten Story.
Nichts für die Meute
Reprodukt, 2024
Text und Zeichnungen: Noëlle Kröger
232 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 26,00 Euro
ISBN: 978-3-95640-428-3
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