Mit seinem ersten Roman konnte Schrifsteller Samuel Beauclair durchaus reüssieren. Doch seither steckt er in einer tiefen Schaffenskrise. Sein zweites Werk lässt auf sich warten, der Verleger drängt darauf, endlich neue Seiten übermittelt zu bekommen. Um die Schreibblockade zu überwinden und dem Druck des Gerichtsvollziehers zu entgehen, quartiert Samuel sich und seine schwangere Frau kurzerhand in das Haus seines verstorbenen Vaters im ländlichen Melvile ein. Zwar sorgt auch dieser Schritt nicht dafür, dass die Kreativität sprudelt, doch findet der glücklose Autor Ablenkung in einer zufälligen Begegnung mit dem Geschwisterpaar David und Rachel. Diese suchten per Anzeige einen Hilfsarbeiter für die Renovierung ihres Hauses und fanden den klammen Samuel.
Zwei Jahre hat der belgische Zeichner Romain Renard an Melvile gearbeitet, einem Comic, der die zerbrechliche Künstlerseele in den Mittelpunkt rückt. Was dabei als erstes auffällt, ist das sehr ungewöhnliche Artwork Renards. Die Bilder sind als klare Bleistiftzeichnungen konzipiert und mit einem monochromen Farbfilter überdeckt worden. Die erdigen Töne ergeben im Zusammenspiel mit dem rustikalen Milieu der Abgeschiedenheit und den eindrucksvollen Landschaftsgemälden ein stimmiges Gesamtbild. Es ist also sicher kein Zufall, dass ein inspirationsloser Schriftsteller perfekt in diese grafisch aufbereitete Szenerie passt.
Dennoch scheint der Zeichenstil zuweilen holzschnittartig, die Panelinhalte statisch. Hier wird die fließende Bildsprache, bei allem Lob, dass man dem Artwork grundsätzlich aussprechen muss, durchaus zum Opfer der klaren Konturen. Gerade bei der Darstellung der Personen fehlt es an Ecken und Kanten, an optischen Reizpunkten, die Menschlichkeit transportieren. In einem kurzen Intermezzo verlässt Renard sogar diesen Stil zugunsten eines detailreicheren, konventionelleren. Vielleicht hätte er auf diese Variante besser schon vorher zurückgegriffen.
Die Zeichnungen sind aber ohnehin nicht das eigentliche Problem, denn trotz kleinerer Kritikpunkte sind sie alles in allem imposant und sehr schön anzuschauen. Und sie besitzen eine gewisse Einzigartigkeit, die dafür sorgen dürfte, dass viele Leser in diesem Zusammenhang von einem echten Highlight sprechen würden. Schwieriger gestaltet sich die Bewertung der Story: Auf über 100 Seiten versucht der Comic, die „Geschichte von Samuel Beauclair“ zu erzählen, eine von Symbolik geprägte Tragödie. Man versteht Romain Renards Intention, in die Psyche eines Künstlers einzutauchen, in dessen Gefühlsleben zu wühlen und ihm eine Perspektive geben zu wollen. Genau dafür stimmt auch das Setting des ausgebrannten, bankrotten Schreibers, der in seiner Hütte mit der Natur lebt und hin und wieder in die Stadt fährt, um seinen Alkohol- und Zigarettenvorrat aufzufüllen. Leider ist aus Melvile aber nicht viel mehr als eine halbgare Aneinanderreihung bekannter Klischees geworden, ein Comicband, der relativ wenig zu erzählen hat, dies jedoch über zu viele Seiten ausschweifend tut.
So kommt es, dass Samuels Flirt mit der jungen, attraktiven Rachel von Beginn an vorhersehbar ist, genau so wie die Tatsache, dass sein Vater ein erfolgreicher Schriftsteller war, in dessen Schatten er stets stand, ein gängiges Motiv ist. Die ruhigen Momente in Melvile sind tolle Augenblicke, die zum Teil sehr schön eingefangen werden, das Naturpanorama sowieso. Nur an den Texten und dem Plot hakt es deutlich. Und so scheitert Renard mit seinem Werk an einer Vorhersehbarkeit, die sogar einen entscheidenden Twist wenig überraschend erscheinen lässt, und am Mangel an Emotionen, die beim Lesen einer solchen Geschichte unabdingbar geweckt werden müssten.
Romain Renard hat sein Comicprojekt als multimediales Gesamtkunstwerk angelegt. Per herunterladbarer App für das iPad hat man Zugriff auf Bonusmaterial wie „Making ofs“, Trailer oder versteckte Augmented-Reality-Inhalte. Zudem ist ein eigens entworfener Soundtrack über iTunes verfügbar. Dem deutschen Leser, der die französische Sprache nicht beherrscht oder die Systemvoraussetzungen nicht erfüllt, bleibt dieses Erlebnis allerdings in Teilen verwehrt. Überhaupt scheint Renard hier ein wenig überambitioniert und es bleibt dahingestellt, ob man für das Lesen des Albums tatsächlich eine solche multimediale Begleitung benötigt. Es ist jedenfalls schade, dass der Comicband im Anhang auf mehreren Seiten lediglich die interaktiven Extras bewirbt, wohingegen ein paar aussagekräftige und größere Skizzen oder vergleichbares Material wünschenswert gewesen wären. Dies soll aber keinen Interessierten daran hindern, sich der Erlebnisreise des Belgiers voll umfänglich hinzugeben.
Ungewöhnlicher Zeichenstil, vorhersehbare Story; grafisch wie inhaltlich kann Melvile nur bedingt überzeugen
Splitter-Verlag, 2015
Text und Zeichnungen: Romain Renard
Übersetzung: Harald Sachse
136 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 24,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-152-9
Leseprobe
1 Kommentare