Julian Voloj und Andreas Gefe haben eine Liebesgeschichte über zwei Menschen in New York geschrieben. Und am Rande ist IN NY auch eine Liebeserklärung an diese Stadt.
Das Cover zeigt die beiden Hauptpersonen in den Parkanlagen am Ufer des East River. Mehr noch als die beiden Menschen aber, die auf einem Baumstamm in der unteren Bildecke sitzen, springt die eindrucksvolle Brooklyn Bridge ins Auge, hinter der sich die Skylone Manhattans abzeichnet. Der Titel macht keinen Hehl aus dem Handlungsort – diese Beziehungsgeschichte ist mit New York eng verwoben. Dass die beiden Wörter einander ähneln wie Original und verzerrtes Spiegelbild, ist kein Zufall. Und auch auf dem Cover entsprechen die beiden Schriftzeilen der Stadtsilhouette einerseits und deren Wiederspiegelung im East River andererseits.
Die Geschichte spielt in einem unbestimmten Frühsommer, und wir begleiten den jungen Protagonisten durch die Geschichte. Wir erfahren rasch, dass seine Freundin bei einem Unfall ums Leben gekommen ist, und zur Bewältigung dieses Schicksalsschlags besucht er regelmäßig eine Therapeutin. Dieser muss er auch erzählen, dass er ihr in letzter Zeit immer wieder begegnet, so als wäre sie noch lebendig. Natürlich sind wir Leser*innen misstrauisch, da wir schließlich seiner Perspektive ausgeliefert sind, und so haben wir von Anfang an Zweifel, ob seine Wahrnehmung nur Ausdruck seiner Sehnsucht ist oder diese Welt nach anderen Regeln funktioniert als unsere.
Gemeinsam besuchen sie die Mermaid Parade, einen Maskenumzug zur Feier der Kunst, an dem Neil Gaiman übrigens 2018 als Neptun teilnahm. Sie besuchen das Metropolitan Museum of Arts und Governors Island, so dass wir mit den beiden gemeinsam eine touristisch abwechslungsreiche Route durch die Attraktionen der Stadt durchschreiten. Die Liebesgeschichte ist von Anfang an von starker Melancholie geprägt – denn auch wenn wir das Paar zusammen sehen, sind wir uns doch berwusst (oder ziehen es in Betracht), dass diese Zweisamkeit bei aller Sichtbarkeit doch eine vergangene ist.
Der Schweizer Zeichner Andreas Gefe hatte zuvor mehrere Kurzcomics veröffentlicht, IN NY ist sein erstes größeres Projekt. Der Münsteraner und Wahl-New-Yorker Julian Voloj hat schon diverse Comic-Szenarios abgeliefert, vor allem biografische Arbeiten mit Amerikabezug, darunter Biographien des Superman-Mitschöpfers Joe Shuster (Knesebeck), der Schauspielerin Marlene Dietrich (Knesebeck), des amerikanischen Schachgenies Bobby Fischer (hier rezensiert für Comicgate) des Avantgarde-Künstlers Jean-Michel Basquiat (Carlsen 2020) und des New Yorker Gangleaders Benjamin Melendez (Ghetto Brother, avant-Verlag 2015). IN NY ist nun ein fiktionales Werk, für das Voloj weder auf eine biographische noch eine Literaturvorlage (Die Judenbuche) zurückgreifen kann.
Das Erscheinungsbild des Comics ist geprägt von den Rötelstiftvorzeichnungen, die hinter der eigentlichen Zeichnung blass hindurchscheinen. Dadurch entsteht eine Konkurrenz zwischen der ausgeführten Zeichnung und dem, was als Vorzeichnung inszeniert ist. Es erweckt den Anschein, als würden zwei Versionen einer Wahrheit neben- oder übereinander bestehen und uns mit der Fragilität dessen konfrontieren, was wir sehen. Diesen Kunstgriff muss man in Hinblick auf den Twist verstehen, den man naturgemäß nicht erzählen kann, ohne zu viel vorwegzunehmen. Zum anderen verleiht diese inszenierte Unfertigkeit dem Comic etwas Unmittelbares, weil er den Vorgang des Zeichnens sichtbar macht, anstatt ihn durch Korrekturen wieder verschwinden zu lassen. Die Zeichenarbeit wird zugleich zur Traumabewältigung.
Das Twist Ending, das uns Leser*innen erst wenige Seiten vor dem Ende der Geschichte überrascht, wird durch manche Details vorbereitet, allerdings so dezent, dass es bei der ersten Lektüre kaum zu erahnen ist. Der Twist stellt eine zentrale Grundannahme in Frage, die der Comic uns Leser*innen suggeriert, aber ist er auch stark genug, um die Lektüre völlig umzukrempeln?
Es handelt sich um einen perzeptiven Twist (nach Willem Strank), was glücklicherweise zunächst rätselhaft genug klingt, um nicht zu spoilern. Im Gegensatz aber zu etwa dem berühmten Fight-Club-Twist stellt dieser nicht alles auf den Kopf – und erscheint so als narrative Spielerei, die keinen allzugroßen Effekt hat, weil die einfühlsam und ohne große Höhepunkte oder erzählte Liebesgeschichte im einen wie im anderen Fall funktioniert. Die Geschichte kommt ohne tiefsinnige Dialoge aus, die Bilder der verlorenen Zweisamkeit sprechen für sich.
Was bleibt, ist eine weitgehend clever erzählte Geschichte über eine tragische Liebesbeziehung.
Liebesgeschichte mit Twist Ending
Edition Moderne, 2022
Text und Zeichnungen: Andreas Gefe & Julian Voloj
Übersetzung: Christoph Schuler
96 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 26,00 Euro
ISBN: 978-3-03731-239-1
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