In einer Welt, in der Alchemie den Menschen Wunder vollbringen lässt, versuchen zwei Brüder, ihre tote Mutter wiederzubeleben. Es scheitert und beide bezahlen einen hohen Preis: Der Ältere, Edward, verliert „nur“ einen Arm und ein Bein; der Jüngere, Alphonse, verliert dagegen seinen ganzen Körper und existiert fortan noch als Geist in einer Rüstung.
Die Armee des militaristischen Staates Amestris rekrutiert die Brüder. Von nun an im Armeedienst, begeben sie sich auf die Suche nach dem Stein der Weisen, den sie als ihre einzige Chance auf Heilung sehen. Als sie Jahre später eine Spur finden, geraten sie in eine Verschwörung, die nicht nur die Grundfesten des Staates, sondern sogar die Existenz allen Lebens bedroht.
Fullmetal Alchemist erschien monatlich von Juli 2001 bis Juni 2010 im Magazin Monthly Shonen Gangan. Es war die erste erfolgreiche Serie der Mangaka Hiromu Arakawa, die als Autorin und Zeichnerin arbeitete. Fullmetal Alchemist war ein großer Hit, mit über 70 Millionen verkauften Bänden gilt der Manga als einer der erfolgreichsten aller Zeiten. Auch in anderen Bereichen war die Serie erfolgreich. Zweimal wurde Fullmetal Alchemist als Anime adaptiert, es erschienen Light Novels und Videospiele. Seit 2017 wird die Geschichte in Form von Live-Action–Filmen in den Kinos gezeigt, der Bedarf für mehr Material besteht also weiterhin. Fullmetal Alchemist muss also die richtigen Zutaten besitzen, die den Manga zu einem dauerhaften Erfolg machen.
Eine davon dürfte die Vielfalt an Themen sein, die der Manga im Verlauf seiner Handlung unter den Hut bringt. Es geht um die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft und ihre ethischen Grenzen, was Krieg mit Menschen macht und wie Menschen mit Schuld umgehen. Die größte Frage dreht sich um den Wert eines Menschen, im übertragenen und reellen Sinne: Im ersten Kapitel zählt Edward die Bestandteile eines durchschnittlichen Menschen auf, es sind eine Menge Komponenten, die sich im Supermarkt kaufen lassen, so zum Beispiel Wasser und Salz. Aber nur weil sich ein Körper herstellen lässt, macht das noch kein funktionierendes Lebewesen. Trotz aller Fortschritte fehlt noch etwas, um Leben zu kreieren. In Fullmetal Alchemist wird die Frage mit einer mystischen Komponente wenigstens teilweise beantwortet, das grundlegende Mysterium bleibt jedoch weiterhin bestehen, denn: alle Menschen bestehen aus dem gleichen Stoff und trotzdem ist jeder Mensch einzigartig. Es ist einer der vielen Widersprüche, die im Verlauf der Geschichte immer wieder aufgezeigt werden, ohne dabei zu sehr auf offensichtliche Exposition zu setzen.
Am besten spiegeln sich die Widersprüche in den erwachsenen Figuren wieder. Die haben nicht nur mehr Erfahrung mit der Welt gemacht als die Elric-Brüder, die meisten dienten im Militär und haben daher ein komplexes Verhältnis zu Gewalt und zum Wert des Lebens. Arakawa benutzt diese Figuren immer wieder für ethische Grundfragen, beispielsweise um zu verdeutlichen, dass der Grund von Machtstreben nicht stets nur in persönlichem Egoismus zu suchen ist. Ebenso kann die offen zur Schau gelegte Freundlichkeit eines Vorgesetzten nicht garantieren, dass dieser nicht doch vielleicht düstere Absichten verbirgt.
Fullmetal Alchemist ist für mich eine der wenigen an Jugendliche gerichteten Geschichten, in der sich Erwachsene auch wie Erwachsene anfühlen. Sie sind pragmatischer, zynischer, bereit für Kompromisse. Das steht im starken Kontrast zu den Elrics, die tendenziell eher der Meinung sind, dass schon alles gut werden wird, wenn sie sich nur anstrengen.
Fullmetal Alchemist ist allerdings kein ruhiger Politthriller, sondern im Herzen eine Actiongeschichte, die sich an weltlichen Martial Arts orientiert, auch wenn Alchemisten im Kampf wahre Wunder vollbringen können. Da lässt der eine steinerne Stacheln aus dem Boden wachsen, während ein weiterer mit einem Fingerschnipsen die Luft in Brand setzt. Gekontert wird das mit unmenschlich geschickter Schwertkunst und mit Kugeln, die mit unglaublicher Präzession abgefeuert werden. Nein, realistisch sind die Kämpfe nicht. Dafür sind sie ein richtiges Spektakel, in denen es gerade zum Schluss richtig blutig werden kann.
Eine abwechslungsreiche Ergänzung bieten die vielen Comedymomente. Der Humor in Fullmetal Alchemists bietet einiges an sympathischen Albernheiten, kann aber bisweilen rabenschwarz werden. Im tiefsten Ernst des Lebens gibt es immer noch etwas was zu lachen, scheint die Geschichte an nicht wenigen Stellen vermitteln zu wollen. Auch eine Möglichkeit, mit Leid umzugehen.
Die Zeichnungen reflektieren die Vielfalt der Geschichte. Die Figuren zeigen das mit ihrer Mimik und dem Rest ihrer Körpersprache. Wenn zum Beispiel der gutmütige Colonel Armstrong sich ständig die Uniform von Leib reißt, um mit seinen Muskeln anzugeben, ist das nicht nur lustig, sondern zeigt auch, dass der gute Mann etwas eitel ist. Künstlerisch lässt Arakawa ihre eigenen Muskeln später spielen, wenn mit vielen Schwarzflächen eine Atmosphäre wie aus den Horrorfilmen erzeugt wird, die auch mit Mangas wie Berserk mithalten könnten. Wenn man bedenkt, wie nah am Abgrund sich Kentaro Miruas Dark-Fantasy-Welt auf jeder Seite befand, ist das eine Leistung, die noch einmal Arakawas Talent verdeutlicht.
Es gibt tatsächlich nur wenig, was ich an Fullmetal Alchemist zu kritisieren habe. Zum einen, dass die Geschichte in der Mitte einen dramatischen Hänger hat. Da befinden sich die Elrics und ihre Verbündeten in einer nahezu ausweglosen Situation. Während aber die Erwachsenen aus eigener Kraft wieder die Oberhand gewinnen, können die Brüder einfach weitermachen wie bisher. Zwar ziehen sich später die Daumenschrauben wieder zu, aber trotzdem wirkt diese Stelle, als hätte Arakawa sich in eine Sackgasse geschrieben und keinen besseren Ausweg gefunden. Da die Geschichte ansonsten schlüssig und durchdacht konstruiert ist, fällt dieser Schnitzer besonders negativ auf.
Schade auch, wenn einige zu Beginn prominente Charaktere mit der Zeit in den Hintergrund rücken oder ganz vergessen werden. Da der Cast mit der Zeit immer mehr anwächst, ist das verständlich, aber es lässt einige Figuren mit ungenutztem Potential zurück. Auch die philosophischen Fragen der Alchemie treten immer mehr zurück und werden durch eine allgemeinere, wenn auch schöne Botschaft über das Leben ersetzt. Allerdings zerstört nichts davon für mich den Lesegenuss und das großartige Ende.
Die vorliegende Altraverse-Neuausgabe, die Metal Edition, ist des Materials sehr würdig. Jeder Band enthält drei Bände der ursprünglichen Ausgabe von Panini und werden als leicht größere, stabile Softcover präsentiert. Das Papier ist klasse, die Übersetzung ist sehr gut, auch wenn ich ein paar Sätze aus der alten Ausgabe besser übersetzt in Erinnerung habe. Auch, dass Edward seinen Vorgesetzten Mustang jetzt siezt, anstatt ihn respektlos zu duzen, hat mich gestört. Da der Charakter nämlich ein respektloser, antiautoritärer Giftzwerg sein kann, verdeutlichte das Duzen seinen aggressiven Charakter. Die Geschichte verliert durch solche Details etwas ihre Lebendigkeit. Abgesehen davon ist es immer noch derselbe Text, der mich Jahre später noch zum Lachen bringt und mitreißt.
Was ich dagegen wirklich schade finde, ist das Streichen von Bonusgeschichten und das Auslassen der kurzen Strips, in denen Arakawa die Leser*innen etwa an ihrem Arbeitsalltag teilhaben lässt. Das waren Geschichten, in denen zum Beispiel die Gruppe um Oberst Mustang versuchte, einen der ihren zu verkuppeln, oder kleine Strips, in denen sich Arakawa witzig über Anakin und Amidala in Star Wars Episode II ausließ.
Nichts davon war für die Gesamthandlung relevant, die Szenen vertieften aber manche Nebenfiguren und sorgten für eine gewisse Leichtigkeit nach besonders düsteren Kapiteln. Zumindest wurden einige Gagstrips in einem kleinen Bonusheftchen gesammelt, sodass einige von ihnen erhalten bleiben. Insgesamt bevorzuge ich die Neuausgabe, auch weil sie klasse im Regal aussieht. (Altraverse startet bald übrigens den ersten Band einer günstigeren Version der Gesamtausgabe, die Ultraversion.)
Großartige Serie, verpackt in einer fast perfekten Gesamtausgabe
Fullmetal Alchemist Metal Edition – Band 1-9
Altraverse, 2019–21
Text und Zeichnungen: Hiromu Arakawa
Übersetzung: Burkhard Höfler
512–644 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: je 18,00 Euro
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