In sechs grundverschiedenen Erzählungen zeigt der US-Amerikaner Adrian Tomine sein ganzes Können. Nur selten gelingt es einem Comicmacher, menschliche Lebensfreude und Abgründe so nah beieinander zu belassen und sie, getragen von schwarzem Humor und bitteren Wahrheiten, in faszinierende Lektüre zu verwandeln.
Seit Beginn der 1990er Jahre tut Tomine dies nun und veröffentlicht Kurzgeschichten in seinem eigenen Magazin Optic Nerve. Ausgekoppelte Episoden werden regelmäßig in Sammelbänden abgedruckt, so entstanden auch die in deutscher Sprache erhältlichen Ausgaben Sommerblond und Halbe Wahrheiten. Die aktuelle Compilation namens Eindringlinge erschien im Original unter dem leicht pessimistischen Titel Killing and Dying. Wie auch immer der deutsche Name zustande kam, so ist er bei genauerer Betrachtung eigentlich ganz stimmig. Denn diese Eindringlinge, auf die hier verwiesen wir, das sind doch im Prinzip wir, die Leser. Jede der sechs Geschichten in dem Band berichtet von äußerst persönlichen Schicksalen, intimen Momenten oder ganzen Gefühlswelten. Also dringen wir alle paar Seiten erneut in das Leben einer der Figuren (oder ganzer Familien) ein und nehmen Anteil daran. Und diese emotionale Anteilnahme ist bei Tomine-Comics ja ohnehin unvermeidlich.
So lernen wir einen etwas einfältigen Gärtner kennen, der die Schnauze voll davon hat, „nur“ ein Dienstleister für seine Kunden zu sein. Durch eine auf „Hortiskulptur“ getaufte Kreation hofft er auf Erfolg und Anerkennung als Künstler und Visionär. Leider sind die steinernen Machwerke, aus denen heraus sich Pflanzen ihren Weg bahnen, ziemlich hässlich und stoßen bei der Familie des Gärtners wie bei Freunden und Nachbarn auf wenig Gegenliebe. Die Story um die Hortiskulptur bildet den Auftakt des Bandes und ist die vergleichsweise amüsanteste und am wenigsten düstere. Das ist durchaus auch beabsichtigt, verschiebt Adrian Tomine dabei doch die Ezählung in ein sauber gegliedertes Korsett aus jeweils vier Panels, die eine Art Comicstrip vorspiegeln sollen. In kleine Plothäppchen zerlegt mit simulierten Pointen, die nur aus Strukturgründen platziert sind, wird der schnauzbärtige, pummelige Gärtner mit der späten Berufung zum Künstler zur tragikomischen Figur.
Ähnlich nachdenklich machend, aber deutlich stringenter erzählt ist die Geschichte „Amber Sweet“, in der eine Studentin bemerkt, dass sie einer bekannten Pornodarstellerin verblüffend ähnlich sieht. Über ihren Umgang mit den Reaktionen aus ihrem Umfeld heraus konstruiert der Autor eine feinsinnige Meditation über Werte, Lebenswege und Identität. Überhaupt sind dies Grundmuster, deren Adrian Tomine sich in seinen Comics gerne bedient.
Als weiteres Beispiel für die Klasse und die Abwechslung in dem Band Eindringlinge sei an dieser Stelle noch die Geschichte „Kaltes Wasser“ erwähnt, die vor allen anderen eine ureigene, lakonische Erzählstruktur aufweist. In der Episode geht es um ein 16-jähriges Mädchen, das stottert, aber den Traum hat, Stand-Up-Comedian zu werden. Wie es Tomine hierbei gelingt, das Familienleben zu veranschaulichen, Gefühle durch anrührende Dialoge zu transportieren und dem Handicap mit unerschütterlichem Humor zu begegnen, ist herausragend. Der größte Clou ist jedoch, dass sich durch die engmaschige Seitenaufteilung mit bis zu 20 winzigen Panels pro Seite und die Fokussierung auf Dialoge, vom Leser beinahe unbemerkt eine immense Wandlung der Figuren vollzieht und im Hintergrund ein Drama abläuft. „Kaltes Wasser“ ist also eine Geschichte, die derart kleinteilig und rhythmisch gleichmäßig wahrgenommen wird, dass man sich während der Lektüre selbst für das Wichtige sensibilisieren muss, was eigentlich ziemlich beiläufig passiert.
Auch in den drei noch verbleibenden Episoden experimentiert Tomine, erzählt wahlweise in Schwarz-Weiß oder in Farbe, aus der Ich-Perspektive oder ohne Panelrahmen. Damit bleibt er immer unvorhersehbar und beweist, welch beeindruckendes Repertoire er besitzt. Das verbindende Glied in den ansonsten kaum miteinander zu vergleichenden Comics ist im Grunde der schwarze Humor, der den fast deprimierenden Realismus immer wieder gekonnt zu durchbrechen weiß. Eine Kunst, die nahe an jener zu verorten ist, die ein Daniel Clowes regelmäßg unter Beweis stellt. Adrian Tomine steht diesem in nichts nach.
Äußerst abwechslungsreiche Kurzgeschichten, gleichermaßen tiefsinnig wie amüsant
Reprodukt, 2016
Text/Zeichnungen: Adrian Tomine
Übersetzung: Björn Laser
120 Seiten, schwarz-weiß/farbig, Hardcover
Preis: 24 Euro
ISBN: 978-3-95640-071-1
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