Bereits zum sechsten Mal dürfen wir in Die Verschiebung den Abenteuern des Julius Corentin Acquefacques, dem „Gefangenen der Träume“, folgen. Der in einer kafkaesken Welt lebende Angestellte im Ministerium für Humor ist seit Jahren der bevorzugte Spielball des französischen Künstlers Marc-Antoine Mathieu, wenn es darum geht, am Medium Comic herumzuexperimentieren. Im neuesten Band verschiebt Mathieu die Zeitebene, lässt seinen Protagonisten wortwörtlich aus dem Rahmen fallen. Ein wahrlich verrücktes Werk.
Zu Beginn des Albums, der in Wahrheit gar nicht der Beginn ist, rauscht Acquefacques auf seinem Bett fliegend direkt in die Panelstruktur der Geschichte hinein. Doch etwas stimmt nicht. Aus irgendeinem Grund hat er scheinbar den Handlungsanfang verpasst und befindet sich jetzt als geisterhafter Beobachter des bereits ablaufenden zweiten Kapitels außerhalb des Geschehens. Währenddessen wundern sich auch die übrigen Figuren in diesem Comic, warum der Held der Erzählung nicht planmäßig aufgetaucht ist. Auch der Nachbar muss auf Befragung zweier Kontrolleure seine Ratlosigkeit kundtun. Aus Verzweiflung darüber, was denn nun mit der Handlung geschehen soll, begeben sie sich ins Off, dort, wo es keine Panelrahmen mehr gibt und so etwas wie eine Zeitlinie nicht existiert. Es scheint nur eine Lösung zu geben: Julius Corentin Acquefacques muss es gelingen, sich dem Plot anzupassen, das Verpasste aufzuholen. Sprich, sich mit der Hauptzeitachse zu synchronisieren.
Nach jedem neuen Comic von Marc-Antoine Mathieu denkt man, der gute Mann hätte jetzt langsam alle Möglichkeiten ausgeschöpft, das Medium auseinanderzunehmen und dessen Grenzen auszuloten. Nicht nur in den Alben mit Acquefacques als zentralem Akteur setzte er sich in der Vergangenheit mit innovativen Erzählstilen auseinander und probierte sich an komplexen grafischen Spielereien, auch der Rest seines Œuvres zeugt von einer einzigartigen Fabulierfreude, die ihresgleichen sucht. Erst vor kurzem erschien bei Reprodukt sein bisher längster Band Richtung, in welchem er einen Mann, geleitet von überall auftauchenden Pfeilen, auf eine wortlose Reise schickt. Mathieus Vorgehensweise ist bei allen seinen Werken ähnlich und prägt seine Arbeiten. Die Verschiebung geht, genau wie die weiteren für sich stehenden Ausgaben der Acquefacques-Reihe, jedoch noch ein ganzes Stück weiter. Hier bricht der Franzose völlig mit erzählerischen Konventionen, bricht Strukturen auf und montiert sie neu zusammen.
In diesem Sinne sind jene Comics von Grund auf als Metacomics zu verstehen, deren Figuren zweckmäßiger Natur sind. Im vorliegenden Fall sind sie sich nicht nur darüber im Klaren, dass sie Teil einer fiktiven Handlung sind, sie kennen sich gar mit den zeichnerischen Begrenzungen und der Ablaufgeschwindigkeit aus. Das ist an und für sich schon verrückt genug. Hinzu kommt, dass Mathieu die Seite 7 als Titelblatt abdruckt, während sich das Cover auf Seite 59 befindet. Selbst das Impressum ist verschoben. Und die Inhaltszusammenfassung auf dem Backcover natürlich ebenfalls. Alles verschoben. Trotzdem ergibt es als Gesamtkunstwerk wunderbar viel Sinn.
In der Mitte des Albums gibt es ein haptisches Gimmick (auch das kennt man von Mathieu), das schlichtweg einen genialen Einfall darstellt. Ohne die Überraschung vorwegzunehmen, sei dazu gesagt, dass die Umsetzung sicher nicht ganz einfach war. An dieser Stelle seien auch Übersetzer Martin Budde und Letterer Andreas Michalke gewürdigt, denen die Passage einiges Kopfzerbrechen gemacht haben dürfte.
Nebenbei bemerkt, auch wenn Acquefacques seinem eigenem Plot hinterher hechelt und seine Co-Stars völlig verstört und ratlos zurücklässt (was ins große Nichts führt), ist es fast schon ironisch, dass eben jene Nebenfiguren „außerhalb“ des Plots, wo der Comic eigentlich gar nicht stattfindet, mit ihren philosophischen Betrachtungen und amüsanter Reflektiertheit für eine ganze andere, zufällig produzierte Erzählung sorgen. Und die ist für den Leser mindestens ebenso spannend wie die zu synchronisierende, verpasste.
Ein weiterer Geniestreich von Marc-Antoine Mathieu. Kreativer kann man das Medium Comic nicht nutzen.
Reprodukt, 2015
Text und Zeichnungen: Marc-Antoine Mathieu
Übersetzung: Martin Budde
56 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 18 Euro
ISBN: 978-3-95640-020-9
Leseprobe
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