Man kann die offenen Grenzen bestaunen oder die sich den Flüchtlingen verschließende „Fortress Europe“ beklagen. Die Mauer treibt die Phantasie eines verbarrikadierten Europa auf die Spitze.
Das Geschwisterpaar Solal und Eva bummelt durch eine postapokalyptische Welt, auf der Suche nach Medizin für die kleine Schwester und nach Abenteuern für den großen Bruder Solal. Wie aus diversen Endzeit-Szenarien bekannt, darbt die Bevölkerung Hunger, Durst und körperliche Sicherheit: „Wir leben in einer Scheisswelt, Kleiner“, fasst eine der Figuren treffend zusammen. Politisches Machtzentrum ist ein brutaler Warlord, der militärische Angriffe gegen die Mauer anführt. Die Mauer durchzieht diese Welt am Rande des Mittelmeers, und dahinter vermuten nicht nur Solal und Eva ein Paradies: Eden. Man könnte auch sagen: Europa.
Davon, ob das Gras auf der anderen Seite tatsächlich so viel grüner ist, kann Solal sich bald überzeugen, denn es gelingt ihm, in das monumentale Befestigungswerk einzudringen. Auf der anderen Seite, so die Hoffnung, wartet ja das Paradies, aber als säkulare Comic-Aficionados wissen wir natürlich, dass Solal und Eva dort kein Paradies finden werden, wo sie es suchen.
Die Idee zu der Story stammt von dem französischen Regisseur Antoine Charreyron, der 2011 gemeinsam mit Samantha Vincent (by the way: Vin Diesels Schwester) versuchte, den Stoff auf die Kinoleinwände zu bringen, scheiterte aber, wie er im Vorwort schreibt, am Budget. Das Projekt landet für ein paar Jahre in der sprichwörtlichen Schublade, bis Charreyron das Szenario schließlich im Januar 2020 als Comic bei Glénat unterbringt: „Wenn ich keinen Film daraus machen kann, soll The Wall ein Comic werden.“ Gezeichnet von dem italienischen Zeichner Mario Alberti.
Charreyron betont die politische Dimension seiner Geschichte und zieht Parallelen zu der amerikanisch-mexikanischen Mauer, und natürlich lässt sich auch die Vorstellung von der „Fortress Europe“ (besungen etwa von der Asian Dub Foundation 2003) direkt anschließen: unerbittlich und Flüchtlingen grundsätzlich verschlossen. Dass Charreyron das ausgetrocknete Mittelmeer als Schauplatz der Handlung wählt, stützt diese Lesart erheblich. Die Bilder der auf Grund gelaufenen Schiffe sind wirklich eindrücklich, wohingegen der meiste Teil der aquarellierten Welt sich in den Braun-Abstufungen eher eintönig gestaltet.
Die Vorstellung von ungleich verteilten Ressourcen und die Probleme einer hemmungslos ausgebeuteten Umwelt sind dem Comic sehr eindrücklich eingeschrieben, aber das Setting ist nur eine Seite der Medaille. Das Storytelling ist die andere. Oft werden die Figuren von Zufällen angetrieben: So erscheint der Warlord just in dem Moment, als die Bewohner einer Siedlung Solal und Eva von ihm erzählen. Und was für ein glücklicher Zufall, dass es Solal und den Warlord gemeinsam zur Mauer hinzieht.
Überhaupt erschließt sich am Ende des ersten Bandes noch nicht, wie diese Welt genau funktioniert, welche Katastrophe zu dem desolaten Ist-Zustand geführt hat, und welche Krankheit Eva an ihre raren Medikamente bindet. Die imposante Action übertüncht das etwas hastige Worldbuilding und sprunghafte Storytelling, so dass die Figuren am Ende des ersten Bandes noch nicht allzu menschlich geraten sind.
„Homo Homini Lupus“ – mit Philosophie-Zitaten ist das so eine Sache, gern dienen sie zur intellektuellen Aufhübschung, ganz unabhängig vom originalen Zusammenhang. Vor allem Kant, Nietzsche und eben auch Thomas Hobbes, von dem das Titelzitat stammt, werden gern herangezogen. Gott ist tot, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, und die Aufklärung ist der Weg des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Es ist, wie es ist, und was weg ist, ist weg. Das Gras ist auf der anderen Seite… Ob man den englischen Staatstheoretiker Thomas Hobbes hier unbedingt braucht, darf man bezweifeln. Ist aber auch egal, außerdem stammt der Satz gar nicht von Thomas Hobbes, sondern von dem römischen Dichter Plautus. Wikipedia sei Dank.
Dieses Thema haben andere, darunter wunderschöne Genre-Perlen wie Brian K. Vaughans und Marcos Martins Barrier, schon deutlich besser in Szene gesetzt, aber letztlich wird man sich fragen müssen, ob der zweite Band die Erwartungen erfüllen kann, die der erste Band noch enttäuscht.
Auf den Hund gekommen
Splitter Verlag, 2021
Text und Zeichnungen: Mario Alberti
Übersetzung: Tanja Krämling
64 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 16,00 Euro
ISBN: 978-3962195755
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