Alison Bechdel beleuchtet in erschöpfender Ausführlichkeit unsere und ihre Sportbesessenheit und erfindet nebenbei beinahe die Graphic Novel neu.
Vorneweg: Das Geheimnis meiner Superkraft ist ein Sachcomic mit einer manchmal sarkastischen Ich-Erzählerin in Plauderlaune, die dir gleichzeitig ihr Leben, die Ideengeschichte des Sports und die Geschichte der Alternativkultur erklären will. Um nicht zu wirr und zu eitel dabei zu werden, macht sie das auf eine so aufgeräumte, selbstkritische und ziemlich distanzierte Weise, dass du dich hinterher fragst, was das Ganze eigentlich sollte. Das Geheimnis meiner Superkraft ist der vernünftigste Comic über Obsessionen und kosmische Gefühle, den du finden kannst und gleichzeitig inhaltlich so verfranzt, dass er nicht als Übersicht über sein Thema taugt. Oder über irgendein Thema.
Also: Alison Bechdel erzählt einigermaßen chronologisch, in nach Jahrzehnten unterteilten Kapiteln, wie sich die Einstellung zu Sport, Fitness und menschlichen Körpern parallel und manchmal gegenläufig in der amerikanischen Gesellschaft und in ihr entwickelt hat. Das Jogging als Hobby entdecken beispielsweise in den 1970ern beide zur gleichen Zeit, und in den 2010ern werden dann beide Seiten von der eigenen Vergänglichkeit gequält und quälen sich deswegen um so rabiater in Workouts. Für Bechdel steckt hinter der Fitnessbegeisterung eine Suche nach Harmonie, die sie mit den Ideen der (englischen) Romantik, des (amerikanischen) Transzendentalismus, mit Beatniks, Hippies, Ökos und beiläufig angeschnittenen buddhistischen Vorstellungen in Verbindung bringt.
Zeichnerisch zeigt Bechdel sich dabei auf der Höhe ihrer Kunst: mittlerweile kann sie in ihrem peniblen, unaufgeregten Cartoonstil durch die gekonnte Komposition ihrer Bilder mehr oder weniger alles ausdrücken: einen Burnout in mittleren Jahren kriegt sie durch ein Bild erzählt, in dem ihr gezeichnetes Ich übernächtigt um halb vier aufs Handy guckt, die Widersprüche in den späten 1960ern und in ihrer Mutter verdeutlicht sie durch eine Splashpage, die eine entfesselte Janis Joplin auf der Bühne und eine ihr entgegenstrebende Menge zeigt, und dazwischen die erschrocken schauende Mutter. Auch der in ihrer Arbeit recht frische Einsatz von Farbe (Holly Rae Taylor), ist perfekt pointiert: rote Pupillen sagen immer alles, Dämmerung, Abendrot oder ein plötzlicher Lichtstrahl sind wundervoll verwaschen. Neu ist der Einsatz des Pinsels, mit dem meditative Schlüsselmomente auf stimmungsvollen Doppelseiten evoziert werden: eine Bergwanderung oder Alisons erster echter Blick auf den Central Park.
Von solchen Ausbrüchen und überschwänglichen Seiten könnte dieser Band sehr viel mehr gebrauchen. Nie wirklich analytisch und nie wirklich gefühlvoll überreizt er auf seinen gut 250 Seiten seine interessierte mittlere Tonlage und den ehrenhaften Versuch, das eigene Ich eben nicht zur Letztbegründung der Geschichte, sondern zum konsequenten Probeteilchen für universellere Phänomene zu machen. Bechdel lässt mit ihrer Klarheit, ihrer Materialfülle, ihrer Detail- und Erklärungswut und der souveränen Beherrschung ihrer künstlerischen Mittel so ziemlich alle selbstzufriedeneren und schlichteren autobiographischen Graphic Novels uneinholbar hinter sich. Aber auch sie hat nur ein Leben, und viele Aspekte dieses Lebens hat sie bereits in früheren, dichteren Werken behandelt. Neu dazugekommen sind als Thema der Umgang mit dem Erfolg und das Älterwerden, und die Sportmanie wurde vorher eher angedeutet. Sagen wir es so: das Aufwachen in einem Beerdigungsinstitut, das tragische Doppelleben des Vaters, die gefährliche Mutter und das eigene Coming Out, von denen Bechdels frühere Bücher wie das Meisterwerk Fun Home handelten, sind deutlich packendere Themen und klingen darum auch hier immer wieder in Echos an. Dem Geheimnis meiner Superkraft fehlen Druck und Drive und Dramaturgie. Der eigentliche, beunruhigende Kern des ganzen Bandes, Alisons und Amerikas Wahnidee von Kontrolle und Stärke, wird nur ironisch aufgespießt, nicht für Außenstehende nachvollziehbar und erlebbar gemacht. Das Buch endet mit der bittersüßen Akzeptanz gegenüber der Welt und ihrer und unserer Vergänglichkeit, aber nichts anderes war zu erwarten, und dafür gibt es Postkarten mit Sinnsprüchen.
Das ändert nichts daran, dass die überbordende Form dieses ambitionierten Comics voller Verweise auf wichtige Gedanken und gewitzter Beobachtungen nichts weniger als ein Gamechanger ist. So ausufernd wurde noch nie wildes, kluges Denken in eine genresprengende Form gebracht, zwischen Erklärcomic und Autobiographie, Comics richtig lesen und Robert Crumb, zwischen Milan Kundera und Kalkofes Mattscheibe. Avantgarde war noch nie so unauffällig. Szenen auflösen kann Bechdel mittlerweile so gut, dass ihr bspw. die Szenarios aller verwirrten Fantasycomics übertragen werden sollten. Und die Suche nach dem Kern von Naturromantik und Gegenkultur nebst aller Abzweigungen wäre auch ohne Sport an sich ein fantastisches Thema. Aber zumindest diesem Rezensenten fehlen hier vielleicht ein bisschen ZACK, PENG und WOW.
Autobiographischer Essay über die gesellschaftliche und persönliche Bedeutung des Sports. Gewaltig, virtuos, clever und voller pointierter Momente, aber leider nur wenig mitreißend.
Kiepenheuer und Witsch, 2023
Text und Zeichnungen: Alison Bechdel
Farben: Holly Rae Taylor
Übersetzung: Thomas Pletzinger, Tobias Schnettler
238 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 30,00 Euro
ISBN: 978-3-462-00253-9
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