Seltsamer Schwanengesang vom Altmeister des seltsamen Comics: Guido Crepax erzählt die Urgeschichten der Horrorliteratur neu.
Guido Crepax (1933–2003) war der große Surrealist des europäischen Comics. Wie häufig im Surrealismus trifft in seinem Werk ein auf den ersten Blick kühler, penibler Realismus auf aberwitzige Einfälle und bizarre Bilder. Und wie viele Surrealist*innen hat er das Verwischen der Grenzen zwischen Innen und Außen, Gefühl und Verstand, Wahn und Wirklichkeit gerne anhand erotischer Phantasien durchgespielt. Diese Erotik hat ihn ursprünglich bekannt gemacht, wie die vergleichbaren Künstler Bunuel, Fellini und Lynch im Filmbereich. Als reiner Comiczeichner wurde er jedoch nach einer ersten Welle an Erfolg und Feuilletonbegeisterung hierzulande zu einem Fall für die Fußnoten in französischsprachiger Sekundärliteratur und für die hochpreisigen „ab 18“-Abteilungen anspruchsvoller Comicläden (hinter dem Vorhang die kleine Treppe runter). Dabei ist die grenzensprengende Pop-Art von Crepax ein hochorigineller, stilvoller Gesamtentwurf für die gute Sache (für alle guten Sachen) und sehr dem Sturm und Drang der 1960er verpflichtet (ich selber würde pornographische Comics, im Unterschied zu Filmen, unter den üblichen Einschränkungen immer verteidigen, aber interessiere mich für explizite Zeichnungen beinahe so wenig wie für SM. Das ändert nichts an der Faszination für Crepax).
Niemand hat eine Comicseite filmischer inszeniert als Crepax (außer vielleicht der amerikanische Szenarist Brian Azzarello eine Generation später, und der schildert eher fluchende schwache Gangster als flüsternde starke Frauen).
Niemand hat scheinbar schlichte, kühle und detailversessene Bilder so mit abgründigen Nebenbedeutungen aufgeladen (außer vielleicht Edward Gorey, dessen Werk allerdings nie jemand aufreizend fand, hoffentlich).
Von den problematischen Comicheldinnen der sexuellen Revolution ist Crepax‘ Valentina vermutlich die am wenigsten problematische und ganz sicher die coolste. Sein dezent morbider 1967er-Jugendstil hat vom frühen Tardi bis zu den besseren Momenten bei Manara, den sinnlichen Szenen bei Corto Maltese, dem Gesamtwerk von (dem viel rationaleren) Vittorio Giardino und Emily the Strange Spuren und Nachwirkungen im Comic hinterlassen. Bei der Frage nach Comics als Kunst kommen wir nicht an Crepax vorbei.
Jetzt legt der Splitter-Verlag in einem wuchtigen Prachtband vier späte Bearbeitungen von Romanen und Novellen der unheimlichen Phantastik vor, Crepax‘ Sicht auf „Dr. Jekyll & Mr. Hyde“, den „Prozess“ (Kafka wird im nicht-deutschsprachigen Ausland ungefähr so zum Genre gezählt wie Poe und Borges umgekehrt bei uns), „Frankenstein“ und „Die Drehung der Schraube“. Von den Urgeschichten der modernen Horrorliteratur fehlen da eigentlich nur „Dracula“ (er hat einen Extraband im selben Verlag) und die Erzählungen von Poe (Crepax hat wenigstens die Detektivgeschichten bearbeitet, bisher nicht auf Deutsch erschienen).
Was nach einem perfekten Projekt für all diejenigen klingt, die von Crepax‘ narrativem Durcheinander bei seinen eigenen Stoffen tendenziell so abgeschreckt sind wie von seinen Corsagen und Peitschen (egal, was der Verlag behauptet, geht es übrigens in der Hälfte der Geschichten wirklich nicht um Erotik), entpuppt sich beim Lesen als zweischneidig: Dummerweise verzichtet der Meister bei diesen Bearbeitungen (die der Begleittext wenigstens zum Teil auf das Sterben der italienischen Comicmagazine und ein Schielen auf den klassischen Buchmarkt zurückführt) auch auf einige seiner größten Stärken: ironische und souveräne Heldinnen, aberwitzige psychedelische Optik, ständige Überraschungen und progressive Satire. Kaum noch irgendwo ein Aufbruch, kaum noch Sympathie, für wen auch immer.
„Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ (1986, gab es schon einmal beim Verlag Schreiber und Leser, nach R.L. Stevenson, 1886) ist eine ungewöhnlich werkgetreue Adaption des bekannten Kurzromans, die sogar den Aufbau der Vorlage beibehält: Im viktorianischen London wird ein stadtbekannter Totschläger und Widerling, der Schrecken des Rotlichtbezirks, unerklärlicherweise von einem allseits beliebten Arzt und Philanthropen gedeckt. Was steckt dahinter? Die strengen Bildzeilen, das akribisch gestrichelte viktorianische London, dessen abweisende prächtige Hauseingänge, Türklopfer, Säulen und trügerisch aufgeräumte Straßenschluchten den unter seinen eigenen Sprechblasen verschwindenden Täter im Frack nicht abwehren oder einzäunen können, haben eindeutig From Hell beeinflusst (Alan Moore bezieht sich auch in Promethea mehrfach auf Crepax). Die herrschaftlichen Kreise und das offiziell vorbildliche Leben des Dr. Jekyll werden von abweisenden ornamentalen Mustern bedrückt, die sich über das Kopfsteinpflaster ziehen wie über Sofadecken, dazu von maskenhaften Gesichtern, von riesigen glänzenden Zylindern und Polizeihelmen. Hinter verschlossenen Türen tigert in expressiven, dynamischen Bildern Mr. Hyde auf und ab, verformt sich und bellt Geständnisse und Flüche. Aber die Bearbeitung wiederholt die bekannten Probleme des Originals (die Filme in der Regel umgehen) – Thema und Tragik der Geschichte werden faktisch erst im Epilog behandelt, vorher dominieren die umständlichen Nachforschungen des farblosen Anwalts Utterson die Handlung, Frauen kommen nur als Nebenfiguren und Opfer vor. Dazu sind in den grausigen Gang der Geschichte ohne zwingenden Zusammenhang irritierend idyllische, mild pornographische Splashpages eingestreut, die Mr. Hyde, nackte Frauen und Männer, Hintern und viktorianische Klistiere (gibt es diesen Fetisch??) zeigen und Spannung, Atmosphäre und künstlerische Integrität der Geschichte immer wieder zurückwerfen. Gerettet wird diese eigenartige Mischung unterm Strich durch die grotesken Auftritte Hydes, die an explosive Momente bei Tardi und Fernandez erinnert und durch die zeitlupenartige Verwandlung von Jekyll in Hyde auf einer Seite mit 16 Panels (diese Sequenz ziert das Cover der internationalen Ausgaben). Eindrücklich und unbehaglich zeigt die Adaption Hyde als konsequent grässlichen Auswuchs einer fassadenhaften Umwelt, ohne ihm irgendeine befreiende Kraft zuzugestehen.
„Der Prozess“ (1997, nach Franz Kafka, 1915/1925) schildert immer noch, wie sich ein kleiner, eines unbestimmten Verbrechens angeklagter Beamter in einem absurden Rechtssystem verläuft, einer bizarren autoritären Gegenwelt, von dessen Existenz er bislang nichts wusste, und sich am Schluss seiner eigenen Hinrichtung fügt, ohne das Geschehen zu durchschauen. Die meisten Bebilderungen des Textes (darunter auch ein späterer Comic von Chantal Montellier und David Mairowitz) setzen auf Schwärze und Schwere und auf Erinnerungen an totalitäre Staaten im 20. Jahrhundert.
Crepax dagegen schlägt eine andere Richtung ein: er strichelt eine zerfallende Welt aus dünnen Linien und plötzlichen Perspektivwechseln, eine Welt einander unruhig überlappender Bilder und ständiger paranoider Seitenblicke. Im Gegensatz zum sofort zupackenden Roman kommt der Comic eigenartigerweise nur langsam in Gang und scheint immer wieder den Faden zu verlieren. Protagonist Josef K. sieht hier leider aus wie Franz Kafka, aber dafür stellen die verschiedenen in seinen Prozess verstrickten Menschen, denen er bei seiner heillosen Odyssee begegnet, unterschiedliche, interessant karikierte Typen des korrumpierten, opportunistischen und ignoranten Menschen dar (die unheimlichen Gerichtsdiener haben dagegen beinahe liebenswerte Pfannkuchengesichter). Die wie eine schemenhafte Erscheinung aus Regen und Nebel auftauchenden dunklen Gerichtsgebäude scheinen so die verdrängte, plötzlich und zwangsläufig aufsteigende Unterseite dieser trügerisch rationalen, verplapperten Welt zu sein, wie es Hyde für das viktorianische London ist. Darin stammt diese Adaption ganz aus der scheinbar beschaulichen Zeit der Jahrtausendwende. Wir haben heute vermutlich härtere Formen absurder Autorität im Hinterkopf, wenn wir den Prozess lesen.
Auch „Frankenstein“ (1999, Mary Shelley 1818) setzt das gleichnamige ausladende Monsterbuch originalgetreuer um als andere Bearbeitungen: Der weltreisende Nichtsnutz Robert Walton (hier sieht er aus wie Franz Schubert) erspäht im arktischen Eis erst eine hünenhafte menschenartige Kreatur und rettet dann einen ausgezehrten Wahnsinnigen , der sie jagt – es handelt sich um Frankensteins Monster und seinen unglücklichen Schöpfer, der Walton seine tragische Lebensgeschichte erzählt. Es ist schon sehr gekonnt, wie beiläufig Crepax das etwas weitschweifige Labyrinth von Mary Shelleys Roman anschaulich verkürzt. Die Blätter erinnern insgesamt an einen alten Bilderbogen aus locker skizzierten Bildern, meist ohne Panelränder, der uns die Welt erklären oder eine Moritat erzählen will. Crepax geht, im Kontrast zu seinem früheren feinen Strich, kräftig in grobe Schraffuren, pfeift auf korrekte Perspektiven und Anatomie, kratzt kalte Sterne in dunkle Tuschehimmel und findet so einen neuen, wuchtigen Stil (der Begleittext legt nahe, dass dies auch einer fortgeschrittenen MS-Erkrankung geschuldet ist). Leider entwickelt die Handlung trotzdem wenig Dynamik. Dass Crepax die (stark verknappten) philosophischen Dialoge und Monologe lediglich mit Bildern von sprechenden Köpfen illustriert, ist nicht sonderlich inspiriert. Das extrem beunruhigende Monster ist dagegen trotz scheinbarer Vertrautheit ein sehr eigener Wurf und erinnert mit seinem dünnen Lächeln und den aufgerissenen Augen eher an Peter Lorre als an den allgegenwärtigen Boris Karloff aus den Universal-Filmen. Doch dann entdecken wir am Ende die Seite, auf der das Monster Frankensteins Braut Elizabeth in ihrer Hochzeitsnacht missbraucht, bevor es sie ermordet. Diese Lesart von Mary Shelleys Geschichte ist nicht unbedingt abwegig, aber in diesem konkreten Kontext und mit dieser konkreten Gestaltung sabotieren diese drei, vier Bilder nicht nur den vorliegenden Band, sondern im Rückblick beinahe Crepax‘ gesamtes künstlerisches Programm aus einem halben Jahrhundert. Frankenstein war der letzte zu Lebzeiten veröffentlichte Comic von Crepax. Da bleibt ein Nachgeschmack.
„Die Drehung der Schraube“ (1989, nach Henry James, 1898) verlegt die Geschichte über die Gouvernante, die bei ihren neuen Schützlingen Verderbtheit vermutet und beginnt, die Geister ihrer toten Vorgängerin und ihres verbrecherischen Liebhabers zu sehen, angeblich ins England der 1920er Jahre (das düstere Herrenhaus sieht jetzt aus wie der Einstein-Turm). Tatsächlich sind wir offensichtlich im Mailand der 1980er-Jahre (das den Jugendstil für sich entdeckt), voller Kleider mit Zackenmuster, riesigen eckigen Ohrringen und blasierten Gesichtern. Die gehemmte Gouvernante schwärmt bei Crepax nicht heimlich für ihren abwesenden Arbeitgeber, den Onkel der Kinder, und lauert auf Anzeichen für das Böse, sondern räkelt sich nackt auf ihrem Bett und schwelgt in Phantasien von dem verruchten toten Paar. Theoretisch geht es hier um den Charakter des Unheimlichen und von Projektionen, und Crepax macht in seiner sehr freien Bearbeitung ein paar zusätzliche verstörende Fässer auf. Praktisch erschlägt der geschmäcklerische Retrochic jeden angerissenen Inhalt. Das ist hübscher, hohler Stoff für das Hinterzimmer anspruchsvoller Comicläden (genau, hinter dem Vorhang die Treppe runter).
Diese in vieler Hinsicht verdienstvolle Sammlung besteht aus aus unterschiedlichen Gründen ärgerlichen Beinahe-Meisterwerken, aus Denkanstößen zum Rotwerden, aus immersiven Bilderstrecken und aus frustrierenden Leerstellen. Und sie hinterlässt vor allem sehr viele Fragezeichen. Also eigentlich alles wie immer, wenn es um Crepax geht. Um Comics. Oder die Welt.
Klassische unheimliche Erzählungen aus der Sicht eines intellektuellen Erotomanen – schwierig und ästhetisch interessant, aber nicht unbedingt gruselig, sexy oder klug
Splitter Verlag, 2024
Text und Zeichnungen: Guido Crepax
Vorworte von Sergio Rossi
Übersetzung: Resel Rebiersch
282 Seiten, Schwarzweiß, Hardcover
Preis: 55,00 Euro
ISBN: 978-3-98721-315-1
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