Rezensionen
Schreibe einen Kommentar

Corto Maltese 16 – Nacht in Berlin

Corto Maltese ist nicht totzukriegen – auch lange nach dem Tod seines Schöpfers Hugo Pratt erlebt der Kapitän immer neue Abenteuer. Das jüngste verschlägt ihn ins Berlin der 1920er Jahre.

Alle Abbildungen © Schreiber und Leser

Mit Nacht in Berlin ist der inzwischen vierte Corto-Maltese-Band des spanischen Duos Canales & Pellejero in der Nachfolge von Hugo Pratt, der Corto Maltese 1967 erfand und bis zu seinem zwölften Band Mu (1991, hier rezensiert für Comic.de) begleitete. Seit 2015 wird Pratts wichtigste Figur in neuen Abenteuern wiederbelebt. Solche Fortführungen von Serien, die sehr stark an ihre Autor*innen gebunden ist, haben es oft nicht leicht, wie es an Asterix besonders gut zu sehen ist – zum einen sind die erfolgreichen Originale oft stark von ihren Schöpfern geprägt worden, so dass der Bruch allzu deutlich wird. Zum anderen sind Fans oft unverzeihlich, wenn die geliebte Serie nicht mehr den Ruch des Originals und die Verknüpfung mit dem originären Schöpfer hat.

Bei einer Serie wie Corto Maltese wäre eine solche Reaktion nicht nur nicht überraschend gewesen, sondern geradezu erwartbar. Immerhin handelt es sich dabei geradezu um ein Musterbeispiel für einen Autorencomic: Hugo Pratt und Corto Maltese sind in der Rezeption so untrennbar miteinander verbunden wie nicht allzuviele Künstler und ihre Kreationen. Tim und Struppi mit ihrem Erfinder Hergé wären so ein Beispiel, und das liegt natürlich auch darin begründet, dass Hergé nicht zuließ, dass nach seinem Tod weitere Geschichten über seine beiden Helden geschrieben werden. Wer „Pratt“ sagt, denkt „Maltese“ und nicht „Ernie Pike“ (hier rezensiert für Comicgate) oder „Ticonderoga“ (hier rezensiert für comic.de), die auch beide auf Deutsch verfügbar sind.

Zwei weitere Pratt-Klassiker sind in den letzten Jahren im avant-Verlag veröffentlicht worden.

Corto Maltese besucht 1924 gemeinsam mit dem österreichischen Schriftsteller Joseph Roth ein Berliner Theater und trifft dort auf einen Schauspieler, der ganz und gar nicht nach seinem Geschmack ist: „Den Clown von eben fand ich aber gar nicht lustig.“ Kein Wunder, es handelt sich um Adolf Hitler, und schon merken wir Leser*innen, dass dieser Band viel mehr Realgeschichte repräsentiert als Corto-Maltese-Fans dies gewohnt sind. Walter Rathenau, Friedrich Ebert, Gustav Meyrink, Max Schmeling, Magnus Hirschfeld – die Liste der zeitgenössiochen Prominenz, mit der Canales aufwartet, ist lang. Auf einer Polizeiwache sieht er das Foto eines unbekannten Toten, der zwar fiktiv ist, Corto-Maltese-Leser*innen aber bestens vertraut. Für ein Panel entgleitet dem smarten Kapitän seine Coolness, weil er seinen Freund Steiner auf dem Bild erkennt.

Es treibt Corto Maltese fortan durch das wilde Meer dieser stürmischen Stadt, und wir erleben sowohl die blühende Kabarretkultur dieser Jahre mit wie auch die Faszination dieser Zeit für spiritistische Séancen.

Hugo Pratt führt uns durch die Berliner Kulturszene der Goldenen Zwanziger.

So exaltiert wie die Gestalten aus den schwarz-weißen Stummfilmen von Friedrich Wilhelm Murnau lassen sie ihre Schatten tanzen und den filmischen Expressionismus wieder aufleben. Daneben gerät die politische Polarisierung dieser Jahre immer mehr in den Fokus. Corto Maltese gerät zwischen die Fronten von KPD und NSDAP, und die Organisation Consul, die 1922 für die Ermordung Walther Rathenaus verantwortlich war, spielt eine große Rolle. Sein Weg führt Corto schließlich auf die Schatzsuche nach geheimnisvollen Tarotkarten, und es werden ihn einige Überraschungen erwarten, nicht nur in Berlin, sondern vor allem auch in Prag, das im zweiten Teil des Comics zum zentralen Schauplatz wird.

Zunächst fehlt es diesem Band an der Exotik der Pratt-Abenteuer, aber punktuell setzen Canales und Pellejero den Exotismus der 1920er Jahre wie ein Metazitat in Szene: Das zeitgenössiche Interesse an der Fremdheit anderer Kulturen manifestierte sich in den populären Völkerschauen oder auch dem Exotismus der expressionistischen Kunst. Nacht in Berlin findet auch für diese Strömungen einige Bilder und zeigt die Sensibilität für diese Epoche.

Die Klassik-Edition und die kolorierte Ausgabe im Vergleich.

Wie üblich, stellt Schreiber & Leser die Fans vor die schwierige Aufgabe, sich zwischen der Klassik-Edition in Schwarzweiß oder der kolorierten Ausgabe zu entscheiden – oder für die bankkontofeindliche Doppelkaufoption. Insbesondere die an den expressionistischen Film der 1920er Jahre angelegte Ästhetik des vorliegenden Bandes macht die Schwarzweiß-Ausgabe zum klaren Favoriten (z.B. in der Séance-Szene), wenngleich auch die Farbausgabe durchaus reizvoll ist. Wie die kantigen Gesichter sich in Nahaufnahmen schattenreich in die Kamera wenden, die langen Schatten ein ganz eigenes Spiel entwickeln und zum eigentlichen Akteur werden … Wiene und Murnau sind in diesem Abenteuer mindestens so präsent wie Pratt selbst.

Das ist vor allem den Zeichnungen Pellejeros zu verdanken: Man möchte fast nach den Stellen suchen, wo er sich als unzulänglicher Kopist erweist, aber ihm gelingt nicht nur, Corto Maltese im Stile Pratts fortzuführen, er schafft auch Szenen, deren Atmosphäre einen eigenen Charakter haben wie etwa die Unterhaltung zwischen Corto Maltese und dem Dichter Joseph Roth, die während eines Gesprächs im Regen laufen und schließlich in einem Meer gleichförmiger Regenschirme zum Stehen kommen und den Begriff der „Masse“ diskutieren: „Man bewegt sich als Masse, man denkt als Masse, man bildet seine Meinung als Masse.“ Es ist bezeichnend, dass wir als Leser*innen nur ahnen können, ob Joseph Roth oder Corto Maltese sich hier als Fanboy Gustave Le Bons outet. Inmitten der Regenschirmmasse lässt sich der Sprecher nicht mehr identifizieren. Es ist geradezu, als würden sich auch Pellejero und Pratt unter solchen Regenschirmen verbergen. Ob wir über Pratt oder doch über Pellejero staunen, wird angesichts der Doppelgängerqualitäten dieses Corto Maltese unter manchem Regenschirm verborgen bleiben.

Damit unterscheidet sich dieser Band deutlich von Schwarzer Ozean (hier rezensiert von Christian Muschweck für Comicgate), aber im Guten.

Corto, Hitler und Max Schmeling

8von10Corto Maltese 16 – Nacht in Berlin
Schreiber & Leser Verlag, 2022
Text und Zeichnungen: Juan Diaz Canales & Rubén Pellejero
Übersetzung: Daniel Nogueira & Resel Rebiersch
88 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover (auch als Farbversion erhältlich)
Preis: 24,80 Euro
ISBN: 978-3-96582-108-8 (Farbversion: 978-3-96582-088-3)
Leseprobe

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken dieses Formulars erklärst du dich mit unserer Datenschutzerklärung einverstanden.