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Comicverführer

Was um Himmels Willen ist ein Comicverführer? Mit Roland Barthes‘ Lust am Text hat das nichts zu tun, Timur Vermes möchte nur Lust auf Comics machen – ob das gelingt?

© HarperCollins

Dieser Comicverführer ist keine Interpretationshilfe, keine Abhandlung über die Geschichte des Mediums und kein Best-of verschiedener Genres, sondern ein ganz persönliches Buch mit „über 250 Empfehlungen und Abbildungen“, also vergleichbar mit Paul Gravetts 1001 comics you must read before you die (2011, deutsche veränderte Ausgabe von Andreas C. Knigge 2012) oder Knigges 50 Klassiker: Comics (2008). Im Gegensatz zu diesen beiden, sehr klar strukturierten Büchern, hat Vermes einen ungewöhnlicheren Ansatz gewählt.

In 36 Kapiteln widmet Vermes sich sehr verschiedenen Themen – die Kapiteltitel lassen noch im Dunkeln, worum es im Einzelnen geht: „Was steckt hinter der neuen Comic-Hoffnung?“, „Was von der Erde übrig bleibt“, „Der kleine Nick surft jetzt bei Youporn“ – diese Titel sind nicht sehr aussagekräftig, machen aber zumindest neugierig. Wer einen genaueren Blick in die Kapitel wirft, wird keine stringente Gliederung finden, denn das ist nicht Teil des Konzepts. Ein Interview mit Thomas von Kummant (Gung Ho) ist hier ebenso zu finden wie ein Kapitel über Western, eines über Will Eisner, über Art Spiegelmans Maus, über Stil im Allgemeinen sowie zum Verhältnis von Comic und Film. Und darüber hinaus diverse Seiten mit „Outtakes“, kommentierten Titellisten, die in den jeweiligen Kapiteln keinen Platz mehr gefunden haben. Kurzum: Diese Comic-Verführung ist ein Abenteuer.

Timur Vermes ist den meisten als Autor des Erfolgsromans Er ist wieder da (Eichborn 2012) bekannt. Der Roman, in dem Vermes Hitler in die Gegenwart versetzt wird, ist nicht nur in Deutschland mit mehr als 2.000.000 verkauften Exemplaren (Stand 2015) ein Bestseller geworden, sondern wurde in etwa 30 Sprachen übersetzt und 2015 verfilmt. Das zeigt, wie gut sich Hitler-Produkte schon immer verkauft haben – Georg Seeßlen hat zwei sehr lesenswerte Bücher über die Hitler-Apologetik in der Popkultur verfasst: Das zweite Leben des Dritten Reichs (2013), ebenso der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger (Nazi-Chic und Nazi-Trash, 2011). Aber zurück zu Vermes und Er ist wieder da. Comicfreunde der 1990er werden sich bei dem Titel sicher an Walter Moers‘ Adolf – Äch bin wieder da (1998) erinnern – das ist kein Zufall, denn Vermes ist selbst ein großer Comicfan. Für Spiegel Online schrieb er von 2016 bis 2020 regelmäßig über aktuelle Comic-Neuerscheinungen.

Ich bin seinerzeit kein Fan von Er ist wieder da gewesen, weil mir das Hitlerverkaufskalkül zu offensichtlich und der Plot zu oberflächlich waren. Den Comicverführer habe ich entsprechend mit etwas Skepsis in die Hand genommen. Ein Blick in die Einleitung gibt schon einen sehr guten Einblick in den Stil des ganzen Buches:

„Warum soll ausgerechnet ich wissen, wie Sie Spaß an Comics neu- oder wiederentdecken?
Wer weiß schon, was ich für einen Geschmack habe? Mal sehen:
Breaking Bad | The Sopranos | Mad Men | The Wire
Kennen Sie? Gucken Sie? Ich auch.
Grand Theft Auto | Red Dead Redemption | Fifa | Far Cry | Portal
Kennen Sie? Spielen Sie? Ich auch.
Sie bleiben regelmäßig bei STAR TREK- und JAMES BOND-Filmen hängen? Sie haben sich bei BLAIR WITCH PROJECT mitgefürchtet und bei BROKEBACK MOUNTAIN mitgeheult? Und ein Blockbuster ist für Sie kein Teufelszeug, weil Sie wissen, dass man mit viel Geld Großartiges machen kann wie die GUARDIANS OF THE GALAXY und Fades wie EVAN ALLMÄCHTIG?
Sehe ich auch so.
Mein Geschmack ist nicht außergewöhnlich. Näher an Pommes frites und Bratkartoffeln als an der Molekularküche. So ähnlich war auch mein Comicgeschmack als Kind: Ich fand gut, was die meisten Kinder gut fanden. ASTERIX, LUCKY LUKE, LUSTIGE TASCHENBÜCHER, FIX UND FOXI, CLEVER UND SMART, die Superhelden von DC (die von Marvel waren mir irgendwie zu ‚anders‘ gezeichnet). Die Sachen aus PRIMO und ZACK. GESPENSTER GESCHICHTEN. BUFFALO BILL, BESSY und SILBERPFEIL. REX DANNY. Die PEANUTS.
Klingt schon wieder vertraut? Sehr gut!“

Das Layout des Buches, die Typografie und der Satzspiegel stellen sofort eine Herausforderung dar, weil die verschiedenen Hervorhebungsarten (Fettdruck, Großbuchstaben, Durchstreichung, größere Schriften etc.) allzu wild daherkommen. Von der Gestaltung im Flattersatz bis hin zu der ungewöhnlichen Platzierung der Seitenzahlen am Innensteg (warum macht man das?) bricht das Buch mit diversen Konventionen. Das ist sicherlich Geschmackssache – der Verlag wird in Kauf genommen haben, dass manche Leser*innen dieses Layout als mühsam und chaotisch empfinden werden.

Das erste Kapitel ist kein guter Anfang. Es muss lizenzrechtlichen Problemen geschuldet sein, dass Vermes in seinem Abschnitt über Frank Millers The Dark Knight Returns (1986) keine Abbildungen des Comics zeigt, sondern auf beliebige Shutterstock-Bilder (Foto eines Blitzes, Foto von New York, Foto einer Perlenkette) zurückgreift, anstatt etwa die berühmte Perlenketten-Sequenz aus dem Original zu zeigen. Das ist erschütternd misslungen und wäre ohne die Behelfsabbildungen zweifelsfrei besser geraten. Immerhin ist das eine Ausnahme, denn sämtliche folgenden Abschnitte sind tatsächlich reich illustriert, und zwar aus den entsprechenden Comics. Dass man in dem Frank-Miller-Abschnitt nicht einmal erfährt, in welchem Jahr dieser verfasst bzw. veröffentlicht wurde, dafür aber, dass Vermes „die zweihundertzwanzig Seiten in einem Rutsch“ (S. 13) auf dem Bett sitzend durchlas, ist vielleicht etwas unglücklich priorisiert, aber es geht im ersten Kapitel ja vor allem um den persönlichen Einstieg.

Keine Frage: Vermes traut sich etwas. Mit seiner persönlichen Meinung hält er niemals hinter den Berg, und so wissen wir genau, dass er Breaking Bad und Bastien Vivès („Blowjob, Erektion, Ejakulation, Schamhaar inklusive“, S. 199) sehr gut findet, Nick Drnaso (Sabrina) und Will Eisner (Vertrag mit Gott) hingegen mag er nicht. Das muss man gar nicht teilen (hier meine Meinung zu Sabrina), aber man kann sich damit auseinandersetzen und sich selbst ein Urteil bilden.

Die Auswahl der Comics ist sehr auf deutsche Veröffentlichungen (Übersetzungen oder Originalveröffentlichungen) der letzten Jahre fokussiert (und ein paar Klassiker), aber man muss schon sagen, dass dieser bunte Querschnitt ganz interessant und vielseitig geraten ist. Es ist auch konsequent in Hinblick auf das Konzept, zum Comiclesen zu ‚verführen‘, dass Vermes im Handel verfügbare Titel in den Vordergrund stellt.

Bedauerlich ist es hingegen, den häufigen Irrtum erneut zu lesen, dass Will Eisner den Begriff „Graphic Novel“ erfunden habe (S. 152). Das ist haarsträubend falsch, denn der Begriff kursierte schon Jahre zuvor in der Comicszene neben anderen Konkurrenzbegriffen („Visual Novel“ etc.) und wurde von Eisner lediglich popularisiert. Das ließe sich in Paul Williams Monographie Dreaming the Graphic Novel (2020) nachlesen, aber es deutet nichts darauf hin, dass dieses Buch bei der Recherche des Comicverführers berücksichtigt wurde. Überhaupt: Das Literaturverzeichnis umfasst gerade einmal acht Titel (S. 313) – „nur eine kleine Auswahl“, räumt Vermes selbst ein, aber eine sehr wahllose, muss man auch ergänzen.

  • Braun, Alexander, Winsor MacCays Little Nemo, Köln 2017
  • Braun, Alexander, Will Eisner. Graphic Novel Godfather, Berlin 2021
  • Eisner, Will, Comics and Sequential Art, New York 2008
  • Eisner, Will, Graphic Storytelling and Visual Narrative, New York 2008
  • Goulart, Ron, The Encyclopedia of American Comics, New York/Oxford, 1990
  • Gravett, Paul, 1001 Comics, die Sie lesen sollten bevor das Leben vorbei ist, Zürich 2012
  • Klanten, Robert/Severt, Andrea (Hrsg.), Marvel by Design, Berlin 2021
  • Rovin, Jeff, The Encyclopedia of Monsters, New York 1989

Selbst wenn man eingesteht, dass das Buch sich nicht an Comicexpert*innen, sondern an Einsteiger*innen richtet, kann man an dieser Stelle deutlich mehr erwarten. Wer bei ChatGPT nach Comicliteratur fragt, wird keine schlechtere Liste erhalten. Und bevor jemand fragt: Ja, Vermes hat in der Literaturliste aus „McCay“ wirklich „MacCay“ gemacht. Und der Kommafehler bei Gravett geht auch auf sein Konto. Abgesehen davon, dass Gravett nicht Autor des Buches ist, sondern dessen Herausgeber.

Jedes Detail für sich ist nur eine Kleinigkeit, und pingelig ist derjenige, der darauf hinweist. In der Summe aber lassen solche Nachlässigkeiten natürlich Zweifel an der Gründlichkeit aufkommen. Die Online-Rezensionen von Vermes lese ich ganz gern und finde darin oft auch Beobachtungen, mit denen ich mich gern auseinandersetze. Mit diesem Buch bin ich insgesamt weniger glücklich

Wer eine Inspiration für die nächste Comiclektüre benötigt, ist mit Paul Gravetts Buch eigentlich ganz gut bedient. Wer hingegen jemand anderen vom Comiclesen überzeugen möchte, sollte vielleicht der Person gleich einen Comic schenken, natürlich einen von Alan Moore, aber das wissen wir ja alle.

One Night Stand

5von10Comicverführer
HarperCollins, 2022
Autor: Timur Vermes
272 Seiten, Farbe, Flexcover
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3365000588
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