Charly 9 von Richard Guérineau ist kein Originalstoff, sondern eine Adaption des gleichnamigen Romans von Jean Teulé. Dieser wiederum beruht auf der wahren Geschichte des französischen Königs Charles IX. Dieser Herrscher auf dem Lilienthron hat traurige Berühmtheit erlangt, weil unter seiner Ägide die berüchtigte Bartholomäusnacht stattfand.
Wenn auch der König die Gräueltaten dieser Nacht nicht befohlen hat, so hat er sie doch stillschweigend hingenommen und damit die „rechtliche“ Grundlage für eines der schlimmsten und ruchlosesten Massaker der Geschichte geschaffen. Zur Erinnerung: Katholiken und Protestanten haben Dispute aufgrund der Reformation beileibe nicht nur mit Worten ausgetragen, sondern es ging blutig zu. Der Dreißigjährige Krieg etwa hatte auch den Charakter eines Glaubenskrieges. Doch 60 Jahre zuvor, im Jahr 1572, wollte Charles IX. Frieden zwischen den Konfessionen stiften und arrangierte die Hochzeit seiner Schwester mit einem Protestanten, dem Herzog von Navarra. Anlässlich der Feierlichkeiten reisten viele führende Hugenotten nach Paris. Diese Gelegenheit wollte die Mutter des Königs, Katharina de Medici, eine überzeugte Katholikin und skrupellose Machtpolitikerin, nutzen und befahl die Ermordung der protestantischen Honorationen. Alles endete in einem Massaker, dem schätzungsweise zwischen 5.000 und 15.000 Menschen zum Opfer fielen.
Nun ist der vorliegende Comic keine Biografie des Königs, sondern behandelt nur sein letztes Lebensjahr. Es beginnt mit dem Bekenntnis der Mutter und einiger Berater, dass sie einen Mord planen und die Erlaubnis des Königs brauchen. In dieser grandios gestalteten Eröffnungsszene werden nicht nur die Ausmaße des geplanten Verbrechens immer monströser und größer, sondern der König auch zunehmend unter Druck gesetzt und schließlich emotional erpresst. Inwieweit übrigens der Mordauftrag wirklich von der Medici ausging, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Aber aufgrund ihres Charakters und der damaligen Verhältnisse wäre es logisch. Charles IX. jedenfalls ist so entsetzt über die Geschehnisse und Folgen der Bartholomäusnacht, dass er darüber wahnsinnig wird und immer unberechenbarer die Staatsgeschäfte führt. Bis ihn eines Tages ein merkwürdiges Leiden befällt.
Guérineau gelingt ein Balanceakt, der seinesgleichen sucht. Diese Comicerzählung ist keine Ehrenrettung des Königs. Wenn er stärker gewesen wäre, hätte er wohl die Massaker unterbinden können. Später begeht er sogar selbst einige Grausamkeiten, die einen beim Lesen fassungslos zurücklassen. Trotzdem wird mehr als deutlich, wie sehr er unter den Taten leidet. Somit gelingt hier ein intensiver Blick in eine gequälte Seele. Und wenn auch die Taten nicht entschuldigt werden, so wird doch Mitleid mit diesem Regenten geweckt, der sich nicht nur in den Fängen der Macht gefangen sah, sondern auch bereits in dem Bild , das sich die Nachwelt von ihm machen wird. Angesichts dessen wird er wahnsinnig, was in diesem Buch zu tragikomischen Momenten führt, und dieser „comic relief“ ist angesichts der düsteren Thematik mehr als willkommen. Warum Guérineau aber gleich drei Seiten im Peyo-Stil gestaltete und eine Episode in Johann und Pfiffikus-Manier ablaufen lässt, ist mir schleierhaft. Dass auch Lucky Luke einen Gastauftritt hat, ist eine nette Referenz, aber in diesem Ambiente unpassend.
Und vor allem unnötig – denn so bricht der Zeichner seinen eigenen, durchaus überzeugenden Stil auf. Seine Figuren wirken zwar manchmal etwas funnyartig, aber Gestaltung und Montage der Bilder sind sehr gelungen. So verzichtet Guérineau zum Beispiel darauf, die Grausamkeiten der Bartholomäusnacht zu zeigen. Stattdessen erscheint nur das Datum auf einer komplett schwarzen Seite und auf den folgenden überwiegt dann ein rötlicher Farbton, während die Leichenberge und die Folgen vorgeführt werden. Manchmal sind solch „kleine“ Szenen wirkungsvoller als wenn die Gewalt explizit gezeigt würde: Aufgrund des Verwesungsgeruchs muss sich die Königin erbrechen, denn der Gestank dringt bis in den Palast vor.
Generell sind die Zeichnungen sehr dynamisch, der Verfall des Königs wird visuell überzeugend dargestellt. Man kann darüber streiten, ob nicht ein realistischerer Zeichenstil angemessener gewesen wäre, aber angesichts der skrupellosen und nüchternen Grausamkeit wäre ein detaillierter naturalistischer Blick womöglich schwer zu ertragen gewesen.
Eine Ironie der Geschichte ist es, dass ausgerechnet bei der Beerdigung des Königs wieder eine Straßenschlacht zwischen Katholiken und Protestanten ausbrach und sein Leichenzug von Leichen gepflastert wurde. Charly 9 ist ein Band, der bewegt, den Leser fassungslos, traurig und wütend macht, und das Bravourstück leistet, Mitleid mit dem Protagonisten zu erregen. Und all das mit einer wahren Geschichte.
Trotz des leicht funny-artigen Stils gelingt das Bravourstück einer ambivalenten Erzählung um einen tragischen Regenten.
Splitter Verlag, 2015
Text und Zeichnungen: Richard Guérineau, nach dem Buch von Jean Teulé
Übersetzung: Harald Sachse
128 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 19,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-044-7
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