Der junge Alan C. Wilder kann Geister sehen und Karate. Bei seinem ersten Fall als übersinnlicher Ermittler in sechster Generation kommt er einem gierigen Geist auf die Spur, der lebende Tiere und Menschen heimsucht, um sich seine Unsterblichkeit zu sichern. Ohne die Hilfe seines aufgeräumten toten Vaters und des Affen auf seiner Schulter sähe Alan vermutlich schnell ganz schön alt aus. Oder zumindest etwas älter.
Ein Originalstoff für Kinder? Ein Gruselstoff für Kinder? Ein Hardcovercomic für Kinder? Ist das denn auf dem deutschen Comicmarkt nicht verboten? Nein, das scheint nur so, und deswegen gebührt den Machern Patrick Wirbeleit und Ulf K. sowie dem Carlsen Verlag erst einmal grundsätzlich jede Menge Lob. Nicht, dass sie das nötig hätten: „Die Brücke der toten Hunde“ liest sich wie Butter und sieht aus, als sollten wir sofort dahin umziehen. Alan C. Wilder ist das gemeinsame Kind, das Tim, Spirou und Jeff Jordan vermutlich gerne gehabt hätten, und seine Welt ist ein beschauliches Wimmelbuch voll böser Geister, Bannsprüche und Besessenheiten. Das taugt eindeutig zum Serienstoff.
Trotzdem ist um Mitternacht leider nicht alles eitel Sonnenschein. Die Reihe ist eindeutig als Kindercomic auf der Höhe der Zeit am Reißbrett entworfen worden. Reißbretter sind viel, viel besser als ihr Ruf, aber sie fördern eben auch rigorose programmatische Entscheidungen. In der „Brücke der toten Hunde“ wird zum Beispiel beinahe alles vermieden, was optisch an das Horror-Genre erinnern könnte. Es gibt keine Spinnweben, keine Skelette, keine seltsamen Symbole und vor allem keine dunklen Schatten (eine einzelne kurze Szene spielt in völliger Dunkelheit, sonst ist alles überklar). Taucht ein Friedhof auf, sieht er manierlicher aus als alle real existierenden Stadtparks (ganz zu schweigen davon, dass natürlich schiefe und verwitterte Grabsteine als visuelles Genreklischee vollständig fehlen). Der Geist von Alans Vater ist vor allem niedlich, der entscheidende böse Geist graphisch so cartoonartig angelegt, dass er an nichts Schlimmeres erinnert als an Stunden, die man vor „Nickelodeon“ vergeudet hat. Im Gegensatz zu diesem verhaltenen Ansatz bei der Darstellung ist die Geschichte allerdings ein klassischer Gruselstoff über das Akzeptieren des Todes, freundlich und hervorragend mit ein paar Wendungen erzählt (darum hier nicht zu viel dazu), aber ohne jeden revisionistischen Twist.
Damit geht die geplante Reihe einen Weg, der bisherigem populären Kindergrusel diametral entgegengesetzt ist: Von Scooby Doo bis zu den Drei ??? werden lustvoll Geisterbahneffekte aufeinandergetürmt, um dann in einem zahmen Krimischluss zu münden, in dem meist depperte Diebe sich hinter Nebelmaschinen verstecken. Da macht Grusel Spaß, aber wer nicht unrechtmäßig nach materiellen Gütern jagt, braucht sich vor nichts zu fürchten. Alan C. Wilder packt dagegen den Stier bei den Hörnern, verhandelt die Tiefenthemen hinter dem Horror und verzichtet dabei beinahe vollständig auf Budenzauber. Der freundlich durch die Gegend schwebende Vater, der gerettete Dackel und die Bilderbuchszenarien verbreiten ungebrochene Harmonie. Dabei haben sich, außerhalb des Bildes, reihenweise Hunde umgebracht und böse Geister gute Menschen versklavt. Diese Spannung findet keinerlei Niederschlag in den Bildern der (spannenden) Geschichte (hier und da ziehen sich Risse durch die Wände, aber es sind sehr ordentliche Risse). Ich bin mir schlicht nicht sicher, ob und wie Kinder ohne meterweise klassischen Grusel im Schrank wohl auf diese spezielle Mischung reagieren (ein Probelesen in der Zielgruppe – in Berlin sind es Grundschüler – ließ sich gerade nicht einrichten). Ich bin mir allerdings sicher, dass sie gerade in Zeiten der aufgeschnappten Schreckensmeldungen und zu vieler Bilder mit gutem Grund angerührt wurde, und damit wären wir wieder beim ehrenwerten Reißbrett.
An diesem Reißbrett sitzt Patrick Wirbeleit, der schon den sehr guten Kindercomic Kiste geschrieben hat, und im vorliegenden Band klar und verwickelt erzählt, wie vielleicht weiland Paul Dini bei den Batman Adventures. Es ist immer wieder erschreckend, wie schlecht gerade im Comic manche Werke vormaliger Meistererzähler wie Maurice Tillieux altern, im Angesicht unser aller aktueller Storyabgebrühtheit. „Die Brücke der toten Hunde“ muss sich dagegen vor keinem Skript in keinem Medium verstecken und ist auf unauffällige Art erzählerisch eine kleine Sensation. Alles sitzt und alles fließt, und dann ist da noch Platz für jede Menge Anspielungen. So erinnert Alans Affe natürlich an Pippi Langstrumpf und heißt Lord Peter, wie der klassische literarische Detektiv mit dem größten Schick. Schulze und Schultze (einer hat allerdings seinen Bart verloren, Schulze, glaube ich) flanieren durch ein kleines, behagliches London, das auch eine „Chutulluh“-Fischbude aufweist, und irgendetwas klingelt ständig bei diesem oder jenem Namen.
Am Zeichenbrett sitzt Ulf K., seit Jahrzehnten in Comics und Illustrationen ein Virtuose der federleichten Melancholie. Früher war er bekannt für seinen eleganten Stil zwischen Ligne claire und den Kästner-Illustrationen von Walter Trier. Sein wunderbarer Band Sternennächte lag Ewigkeiten lang neben meinem Bett, was ich jedem Menschen mit Schlafproblemen empfehle. Hier zeichnet er eckiger und reduzierter (und offensichtlich häufig mit Hilfe des Rechners). Immer noch kann er eine ganze Welt in ein halbes Panel packen und aus drei Strichen eine Stadt zaubern, in der jede Pflanze und jeder Teekessel seltsam beseelt sind. Seine Neigung zu Körperkomik im Stil von Hergé sorgt dafür, dass die Actionszenen eher turbulent als schweißtreibend geraten. Wie immer setzt er als Speedlines luftige Schnörkel und er schüttelt sympathische Figuren aus dem Ärmel wie noch nie. Statt hingetupfter Punkte setzt er nun allerdings starre Kulleraugen, die zumindest bei mir einen leichten „Uncanny Valley“-Effekt auslösen. Und zumindest ich hätte mir mehr Details und weniger sprechende Köpfe in den Bildern gewünscht (und frage mich, ob die Zeichnungen im Erscheinungsformat hergestellt wurden und deswegen wenig Platz in den Ecken war). Die Nuancen in und zwischen diesen Köpfen sind allerdings wunderbar getroffen.
Der Comic ist klasse. Aber.
„Die Brücke der toten Hunde“ gehört sicherlich in die ewige engere Auswahl möglicher Geschenke für die Zielgruppe. Trotzdem fehlt zumindest für mein Empfinden etwas Entscheidendes (vor allem, wenn wir die Frage nach der Zielgruppe für einen Moment außer acht lassen). Ohne hier einer schwierigen und schmierigen romantischen Sicht auf Kunst fröhnen zu wollen, fehlen mir ein unbewusster Schlenker oder ein Fehler. Etwas Exzentrisches oder etwas Exzessives, ein verwirrender Einzeleinfall oder ein seltsamer Gag im Hintergrund. Eine kleine Epiphanie, gerade bei einem Comic, gerade bei einem Werk von Ulf K., gerade bei einem Werk der Phantastik.
Ohne wenn und aber werde ich aber den zweiten Band verschlingen, wenn er erscheint. Und lege „Die Brücke der toten Hunde“ vorsichtshalber in Bettnähe. Ein freundlicher Geist und charmante Bilder sind in schlaflosen Nächten immer willkommen.
Sehr guter Gruselcomic für Kinder in klischeefreier Optik, dem vielleicht ein Fünkchen Wahnsinn fehlt.
Carlsen Comics, 2020
Text: Patrick Wirbeleit
Zeichnungen: Ulf K.
96 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 14,- Euro
ISBN: 978-3-551-73024-4
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