Es ist nicht weniger als eine Sensation, dass die Serie Miracleman im Jahr 2023 endlich fortgesetzt wird, 30 Jahre nachdem Neil Gaimans Storyline „The Silver Age“ nach der zweiten Episode ohne Vorwarnung eingestellt wurde.
30 Jahre kann gut und gerne bedeuten, dass die Leser von damals nicht nur Eltern, sondern bereits Großeltern geworden sind. Inwiefern kann man sich bei dieser Zeitspanne eigentlich darauf verlassen , dass Neil Gaiman immer noch der Erzähler von damals ist und seine Interessen und sein Stil sich nicht fundamental verändert haben? Man muss sich die Veränderung vor Augen halten, die Alan Moore, der Autor der ersten 16 Hefte, durchlaufen hat, dass er nicht mal mehr als Autor genannt werden möchte. Aber diese Entscheidung begründet sich durch die veränderte Umgebung, in der die Comics jetzt im neuen Jahrtausend erscheinen: Ursprünglich hieß Miracleman ja Marvelman und war eine durch und durch britische Angelegenheit. Nach Einstellung des Warrior-Magazins 1984 wanderte die Figur zum amerikanischen Independent-Label Eclipse, wurde aber inzwischen in Miracleman umbenannt, um nicht Probleme mit dem Marvel-Konzern zu bekommen.
Rechtliche Probleme bestanden allerdings an anderer Stelle, denn bereits die Annahme des Warrior-Herausgeber Dez Skinn, Marvelman sei public domain, war nicht korrekt, vielmehr war der frühere Marvelman-Autor Mick Anglo Rechteinhaber. Dennoch hat Dez Skinn den Autoren des neuen Marvelman-Strips einen Rechteanteil an ihren neuen Marvelman-Strips zugesprochen, was schnell kompliziert wurde, als der Zeichenstift von Gary Leach zu Alan Davis wechselte. Bei Eclipse wiederum machten sich finanzielle Probleme bemerkbar, Künstler mussten oft lange auf ihre Bezahlungen warten, dazu kamen frustrierende Unklarheiten bei der Tantiemenzahlung. Als Eclipse 1994 bankrott ging, fiel Miracleman in eine rechtliche Grauzone, aus der die Serie lange nicht mehr befreit werden konnte. Das Tauziehen, das sich danach entwickelte, auch der inzwischen irrelevant gewordene Nebenplot um Todd McFarlane und den Image-Verlag, sind bereits umfassend dokumentiert und sollen hier nicht noch einmal aufgegriffen werden. (Die Geschichte ist bei Wikipedia gut dokumentiert. Wer noch tiefer in die Materie einsteigen möchte, dem sei George Khourys Interviewsammlung Kimota! empfohlen.)
2009 haben sich Mick Anglo und Marvel geeinigt, so dass die Verwertungsrechte im neuen Jahrtausend tatsächlich bei Marvel gelandet sind. Die Hinweise in den alten Marvelman-Episoden der Warrior-Frühphase, Marvelman sei in „no way associated with Marvel Comics Ltd.“ wirken seither wie ein frühes Omen auf das, was noch kommen sollte. Alan Moore jedoch hatte bereits wegen einer anderen Sache in den 1980ern den Entschluss gefasst, niemals für Marvel zu arbeiten, da er deren Politik, vor allem den Umgang mit Autorenrechten verabscheute. Er verfügte, dass sein Name auf keiner der neuen Ausgaben genannt werden darf, stattdessen steht dort „The original writer“. Die Übernahme von Marvel durch Disney ist so nur der folgerichtige nächste Schritt in der Entfremdungskette zwischen Alan Moore und seinem Produkt, die Zerrüttung ist längst endgültig. Neil Gaiman, der in den 1980ern noch sehr konsequent den Schulterschluss mit Künstlern gesucht und einst wegen einer singulären Zensurmaßnahme bei DC seine Mitarbeit bei Swamp Thing verweigert hat, ist da inzwischen viel pragmatischer geworden. Für ihn hat sich endlich die lange verfolgte Gelegenheit ergeben, seine Saga zu Ende zu erzählen.
Ein Superheld für das neue Jahrtausend
Alan Moores Miracleman (ich nenne ihn von nun an Miracleman) beginnt damit, dass der 40-jährige, freischaffende Reporter Mike Moran von Albträumen geplagt wird. Es sind fragmentierte Flashbacks an den schicksalhaften Tag, als Miracleman und seinen beiden Freunden Young Miracleman und Kid Miracleman eine tödliche Falle gestellt wurde. Auch an ein Triggerwort von hoher Bedeutung meint er sich erinnern zu können. War es Kimono? Komodo? Krakatoa? Es ist dem Erzähltempo der alten Warrior-Erzähleinheiten von etwa fünf Seiten pro Kapitel geschuldet, dass das Zauberwort gleich im ersten Kapitel getriggert wird, als Terroristen versuchen, Plutonium zu stehlen und Mike zur falschen (richtigen) Zeit vor Ort ist. In einer Spiegelung sieht er das Wort „Atomic“ und erinnert sich: KIMOTA ruft er, und verwandelt sich in Miracleman, der Figur seiner Träume, eine idealisierte, verjüngte Form seiner selbst, mit einer Kraft, die mit Muskeln nichts zu tun hat, unverwundbar, mit der Gabe zu fliegen – und ein vielfaches intelligenter als sein menschliches Alter Ego ist er auch.
Aber der erste Auftritt von Miracleman hat Konsequenzen. Auch Kid Miracleman, der ehemals jugendliche Sidekick, hat die Atomexplosion, die die Miracleman-Familie auslöschen hat sollen, überlebt. Kid Miracleman, das ist Johnny Bates, hat aber anders als Mike Moran nicht zurückgeswitcht zu seiner zivilen Identität und auch nicht sein Gedächtnis verloren. Johnny Bates hat über ein Jahrzehnt lang seine Superkräfte und seine Superintelligenz geheim gehalten, nutzte sie aber, um sich ein Firmenimperium aufzubauen und wie Ozzymandias (Watchmen) reich und mächtig zu werden. Aber die absolute Power hat Johnny Bates korrumpiert.
Als Johnny und Mick sich zum ersten Mal seit ihrer gemeinsamen Superheldenära wieder treffen, erkennt Mike das Böse in Johnny und stellt ihn zur Rede. Es entbrennt ein erster Kampf der Titanen in London, und Johnny gibt einen Vorgeschmack auf seine absolute Grausamkeit – und da er auf 16 Jahre mehr Erfahrung in einem Superheldenkörper zurückgreifen kann als Mike, der seine Kräfte tastend und ungeschickt erst wieder neu entdeckt, wäre Kid Miracleman schon in diesem Duell der Sieger, würde er nicht versehentlich das Triggerwort sagen, das ihn zurückverwandelt: „Miracleman“. Kaum spricht er im Eifer des Gefechts seinen Kontrahenten mit Namen an, verwandelt sich Johnny Bates vom psychopathischen CEO zurück in den den kleinen Jungen von damals, der Seite an Seite von Miracleman die kindischen, meist von Mick Anglo gestalteten Abenteuer der 1960er Jahre bestritt.
Träume in der Matrix: Die Origin Story
Alan Moore erzählt uns wie in einem Spionage-Thriller, dass nichts von dem, was wir bisher über die Miracleman-Famile zu glauben meinten, der Wahrheit entsprach: Tatsächlich bestand die Miracleman-Familie aus drei Waisenkindern, die als Versuchskaninchen missbraucht wurden. Der Abenteurer und geniale Wissenschaftler Gargunza wendete außerirdische Technologie an ihnen an, die er zuvor in einem abgestürzten UFO entdeckt hat. Diese besteht im Wesentlichen auf einer Erweiterung der eigentlichen Existenz auf zwei Körper, einer davon gentechnisch mit Supertechnologie aufgebaut, der andere als Alltagskörper dienend. Durch Aussprechen eines Triggerworts wird einer der Körper aktiviert, während die andere Version wie ein derzeit nicht getragener Anzug in einer Nische des Universums, dem sogenannten Infraspace geparkt ist.
Den Aliens war es durch diese Technologie möglich, große Weltraumexpeditionen durchzuführen. Während der Alltagskörper im Infraspace geparkt war, konnte der Superkörper die Strapazen des Raumflugs überstehen. Aber wozu dann überhaupt noch einen Alltagskörper haben? Diese Frage stellte sich später ja auch der kleine Johnny Bates. Es mag wie eine sperrige, umständliche Technik wirken, die Moore uns hier auftischt, aber sie dient dazu, das surreale Bild eines göttlichen Übermenschen in Szene zu setzen, der an seine primitive Menschlichkeit gekettet ist. Später jedoch, als die Aliens zurückkehren, entpuppt sich diese mythologisierende Sicht als Quasi-Höhlengleichnis. Für die hochentwickelte Spezies der Qys ist es ganz normal, sich je nach Anlass neue Körper anzulegen, die im „Underspace“ wie Kleidung zur Verfügung stehen.
Die Kinder Michael Moran, Dicky Dauntless und Johnny Bates werden also entführt, betäubt und geklont, wobei die Klone genetisch zu der Gefährlichkeit einer menschlichen Atombombe weiterentwickelt werden, während die menschlichen B-Körper im Infraspace geparkt sind. Aber Gargunza hat auch Angst vor diesen Übermenschen, die er gegen ihren Willen geschaffen hat. Deswegen kreiert er eine folgenschwere Sicherung. Er versetzt die Übermenschen in einen Dauertiefschlaf und spielt ihnen in diesem Zustand Träume ein, die ihnen suggerieren, sie wären Superhelden in einer knallbunten Comicwelt. Somit dienen sämtliche Miracleman-Comics seit 1950 als Teil einer Realität zweiter Ordnung und bleiben relevant. Einmal kommt es dabei zu einer Beinahe-Kernschmelze. Das Unterbewusstsein von Mike Moran begehrt gegen die irrational-naiven Geschichten auf und versucht durch ständiges Ad-Absurdum-Führen der Ereignisse, den echten Mike zum Erwachen zu bringen. Gargunza kann in letzter Situation verhindern, dass die Übermenschen erwachen, weiß aber nun, dass sein Schlaflabor auf Dauer keine Sicherheit mehr bieten kann. Deshalb inszeniert er ein letztes Abenteuer für die Miracleman-Family. Sie werden in Richtung eines Satelliten geschickt, in Wahrheit befindet sich darin eine Atombombe, die die Miracleman-Famile vernichten soll. Diese explodiert und vernichtet vermeintlich die hochdynamische Heldentruppe – tatsächlich wird dadurch der Zustand herbeigeführt, in dem Alan Moores Saga 16 Jahre später beginnt.
„Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“
Alan Moores Comicrevolution bestand nie nur darin, dass er besonders clevere, elaborierte Skripte geschrieben hat. Charakteristisch für Moore ist auch, dass Gewalt in seinen Geschichten oft eine sexuell stimulierende Komponente beinhaltet.
In The Ballad of Halo Jones beispielsweise findet Krieg in einer Welt statt, in der Gravitationsfelder die Zeit punktuell extrem verlangsamen. So kann ein Soldat auf dem Schlachtfeld dabei zusehen, wie abgefeuerte Patronen sich auf seine Kameraden zubewegen. Das Erschossenwerden wird durch diesen Effekt auf Stunden zerdehnt. Immerhin: Nähert er sich dieser Szene, beschleunigt sie scheinbar bzw. man dringt selbst in die Zone extremer Langsamkeit ein, so dass das Zeitgefühl sich neu ausrichtet. Soldaten verbringen aufgrund dieser zeitlichen Anomalien gefühlt Wochen in der Kriegszone, während in der Realzeit nur wenige Minuten vergehen. Ein ähnliches Phänomen beschreibt Moore in Swamp Thing, als der in die Hölle verdammte Anton Arcane erfährt, dass die Grausamkeit der Hölle sich nicht allein darin erschöpft, dass man Qualen ausgesetzt ist. Das endlos langsame Fließen der Zeit und die Vorenthaltung jeglicher Perspektive, es könne sich jemals etwas daran ändern, ist der wahre Wesenskern der Hölle. Es ist die totale Hingabe an den Abgrund.
Eine neue Dimension der Perversion hat Moore auch im Batman-Universum eingeführt. Sie war so heftig, dass er sich im Nachhinein noch oft dafür entschuldigt hat, die Comics ihres naiven Zaubers beraubt zu haben. Damals, d.h. im Jahr 1988, aber war diese Art der Grenzüberschreitung Moores Markenzeichen: Der Joker schießt in Batman: The Killing Joke, der arglosen Barbara Gordon an ihrer Haustür in den Bauch und dokumentiert auf Video ihr Leid. Danach spielt er die Videos ihrem Vater, Commisioner Gordon, in Endlosschleife immer wieder vor, um ihn in den Wahnsinn zu treiben. Oder denken wir auch daran, wie Jack the Ripper in From Hell eine ganze endlose Nacht damit verbringt, die Prostituierte Mary Kelly in ihrem Appartment abzuschlachten und dabei genüsslich in ihren Eingeweiden zu wühlen. Eine ganze Nacht der perversen Lust, in der Alan Moore kein Detail auslässt – fast schon ein Reenactment.
Auch Miracleman ist verstörend darin, wie der Pegel an Grausamkeit gleich zu Anfang hochgefahren und dann immer wieder graduell hochgeregelt wird, bis es in Heft 15 zu einer orgasmischen Entladung kommt, wie man sie von einem verrückten Gott erwarten darf. Schon die erste Begegnung zwischen Miracleman und Kid Miracleman eskaliert so weit, dass ein Teil von London verwüstet wird, bis sich Kid Miracleman mit dem versehentlich ausgesprochenen Triggerwort in den kleinen Johnny Bates zurückverwandelt.
Dann beginnt das Perfide, denn Kid Miracleman exisitiert natürlich weiter, aber eben zwischenzeitlich nur im Infraspace bzw. Underspace. Von dort quält er den kleinen Jungen Johnny Bates in dessen Kopf und flüstert ihm dämonisch ein, er solle ihn wieder rauslassen, eine typische Situation von dämonischer Besessenheit, wie man sie aus Horrorfilmen oder Stephen-King-Romanen kennt. Mit der Zeit lernt Johnny Bates, diesen Dämonen keine Macht mehr einzuräumen – und alles könnte fast gut werden, gäbe es nicht auch das ganz profane Böse in Form von anderen Kindern, die den schwächlichen Johnny grausam mobben. Als diese ihn ganz besonders quälen und der Anführer der Bande sich tatsächlich daran macht, den kleinen Johnny zu vergewaltigen, sagt dieser dann doch in größter Verzweiflung das Triggerwort und setzt den teuflichen Kid Miracleman wieder frei. Die Erleichterung darüber, von den Quälgeistern befreit zu sein, die Kid M natürlich sogleich abschlachtet, wähnt nur kurz. Danach zerquetscht Kid M die Krankenschwester, die stets wie ein Engel für Johnny gesorgt hat, wie ein Insekt. Dann kommt Kid M über London und verbringt die erste halbe Stunde damit, sämtliche Grausamkeiten durchzuspielen, die der Menschheit je eingefallen sind. Danach wird er kreativ und erprobt ungeahnte Grausamkeiten jenseits des Fassungsvermögens. Dem echten Miracleman gelingt es zwar, Kid Miracleman in eine Zwangslage zu bringen, dass dieser sich wieder in Johnny Bates verwandelt, danach aber muss er wissentlich das Urvertrauen des 14-jährigen Kindes hintergehen und dreht ihm den Hals um.
Angesichts dieser Grausamkeiten verwundert die unbeholfene Zensur der aktuellen Marvel-Ausgabe, die das in Rollenprosa geäußerte N-Wort so überhöht, als wäre es die einzige Grenzüberschreitung, die Moore in seinem Skript begangen hat. Als wäre die durch den Plot gerechtfertigte Tötung eines Kindes durch die Heldenfigur nicht ebenso verwerflich. Oder die durch den Plot gerechtfertigte Tötung eines kleine Hündchens, bevor es sich per Triggerwort in einen Monsterdog verwandelt. Auch gibt es gibt es den – wiederum nur aus erzählerischer Pragamtik heraus motivierten – Femizid an der Schwester, nur um die Grausamkeit des Widersachers noch hervorzuheben, dann das Foltern und Auslöschen einer ganzen Stadt. Die Miracleman-Comics sind eine einzige große Grenzüberschreitung. Marvel dagegen ist sich nicht zu schade, in ihrer firmeneigenen Comic-App den Hintern der nackten Ehefrau von Mike Moran mit einem Höschen zu retuschieren; immerhin, Printausgabe und die Version von Comixology blieben unangetastet. Trotzdem stellt sich die Frage, was ein Comic wie Miracleman überhaupt in so einer App zu suchen hat. Offensichtlich fand ein Verantwortlicher, dass eine nackte Frau neben einem angezogenen Mann (ihr Ehemann) zu kinky ist.
Get behind me, Satan
Und dann ist da noch Miraclewoman. Weit ab von dem Labor, in dem Dr. Gargunza seine Titanen Miracleman, Young Miracleman und Kid Miracleman in ihrer Matrix träumen lässt, hat er einen weiteren Ort: Dort hält er unter ähnlichen Bedingungen seine Wunderfrau, die er als Schülerin entführt und ebenfalls als Übermensch geklont hat, samt Zweitkörper und implantierten Triggerwort. An dieser hat sich Gargunza seither regelmäßig sexuell vergangen in der Hoffnung, einen Übermenschen zu zeugen, während diese gleichzeitig in einer virtuellen Comicwelt – sprichwörtlich dissoziiert von ihrem Körper – wunderbare Comicabenteuer erlebte.
Miraclewoman, bzw. Avril, wie sie auch heißt, ist deswegen eine bemerkenswerte Figur, weil sie als einzige Figur des ganzen Miracleman-Figurenkosmos das, was ihr angetan wurde, mit dem, was sie jetzt ist, in Einklang gebracht hat. Ein Missbrauchsopfer, das überlebt hat und gestärkt aus ihren Erfahrungen hervorgegangen ist. Und ja: Avril ist auch eine Sexgöttin, die ihre negative sexuelle Erfahrung ins Positive wendet. Darüber hinaus ist sie voll empathisch, denn sie kennt die Abgründe der Menschen. Es steckt fürwahr eine Menge Alan Moore in diesen Miracleman-Comics.
Als die Aliens, die einst versehentlich Spuren ihrer Technologie auf der Erde hinterlassen haben, erkennen, dass vereinzelte Individuen sich göttlichen Status aneignen und inzwischen Nachwuchs zeugen, kehren sie zurück, um die primitive Menschheit in ihren Völkerverbund der intelligenten Lebensformen einzugliedern. Aber die Götter sind nicht perfekt. Auch sie sind zerstritten. Auf der einen Seite gibt es das Volk der Qys, die die Kopplung an einen Körper längst hinter sich gelassen haben. Von ihnen stammt die Technologie der austauschbaren Körper im Underspace. Geschlechtliche Eindeutigkeit gibt es bei den Qys nicht mehr, ihre Kingsqueen wird mit dem diversen Pronomen „hir“ beschrieben und gilt als vollkommenste Kreatur. Auf der anderen Seite sind die Warpsmiths, die nicht genderfluid sind, sondern aus einer starren Trennung in drei männliche und drei weibliche Geschlechter bestehen. Eine Ehe zwischen Warpsmiths wird in Form eines Hexagons vollzogen.
Offensichtlich aber können auch die Aliens von den primitiven, gerade erst die Apotheose durchlaufenden Menschen lernen. Als die Warpsmiths und die Qys sich über die Frage der Zukunft der Menschheit zu zerstreiten drohen, schlägt Avril vor, die Qys und die Warpsmiths könnten doch stattdessen Sex miteinander haben, und während Mike Moran diese Anmerkung noch für unangemessen und spätpubertär hält, setzt sie in den altehrwürdigen Denkweisen der Anderen neue primitive Impulse frei, die sogleich für Frieden sorgen. Wenn doch Denken außerhalb der Box immer so schöne Nebeneffekte hätte. Miracleman ist eben auch Alan Moores Hippie-Dream von Wooden Ships.
A better loving world
Mit der Geburt von Winter, Miraclemans erster Tochter, und der Ankunft der Qys und Warpsmiths beginnt der Umbau der Welt. Eine der ersten Amtshandlungen ist es, die alten Regierungen abzusetzen und sämtliche Atomwaffen der Erde in die Sonne zu werfen. Danach beginnt der soziale Umbau: Gargunzas Technologie, bzw. die Technologie der Qys, wird öffentlich und jeder Mensch kann zum Übermensch werden, die ganze Welt dabei ein großer Spielplatz.
Beim erneuten Lesen von Alan Moores 1987 verfassten Skripten fällt jedoch auf, wie sehr inzwischen vieles von dem, was damals visionär und poetisch wirkte, von der Realität des 21. Jahrhunderts bereits profaniert und entzaubert wurde:
„Computers and telecommunication webs make earth a place where distance is irrelevant […]. No cities, concentrating jobs and lives into one crammed environment, when screens can take the office into every home. No borders in the electronic state, where jokes in Aberdeen raise laughter in Japan.“ (Miracleman 13)
Man fragt sich doch, ob Alan Moore nicht ein zu idealisiertes Bild von Home Office, dem World Wide Web und der vermeintlich so körperlosen Kommunikation entwirft. Dennoch bleibt erstaunlich, wie visionär Alan Moore hier kommende Entwicklungen vorwegnimmt, ebenso die Auflösung der Geschlechtergrenzen und die daraus entstehende Unzulänglichkeit der Grammatik. In Miraclemans schöner neuer Welt sind die Kinder klüger als ihre Eltern und setzen sich brüsk über deren Ansichten hinweg, so auch Miraclemans Tochter Winter, die von Geburt an die menschliche Sprache beherrscht und diese Gabe nur zurückhält, um ihre menschliche Mutter Liz nicht völlig zu überfordern. Als Kleinkind von gerade einmal einem Jahr beschließt sie dann, das Universum zu erkunden und lässt so auch ihren Vater Miracleman zurück, der ja ebenfalls, man vergisst das zwischenzeitlich, nur als Working-Class-Brite des 20. Jahrhunderts sozialisiert ist. Drei Jahre später kehrt Winter dann zurück und berichtet ihrem Vater davon, dass sie die bei den Qys mit „spacial pleasure bodies for sex“ experimentiert hat. „You did what?“ wirft Miracleman ein, „Winter, you’re only four.“ Dafür wird er von Winter ausgelacht: „Oh, father, you are so funny sometimes.“
Auch der Strafvollzug, wie er mal war, wird außer Kraft gesetzt, da das Verbrechen unter Menschen als bloße Adrenalinsucht identifiziert wird, die mit organischen Ersatzprodukten aufgefangen werden kann. Charles Mansons Potenzial als Sozialpädagoge für missbrauchte Kinder wird erkannt, nur an seinem latenten Rassismus muss er noch ein bisschen arbeiten. Und der Traumberuf vieler Kinder ist es, drogensüchtige Psychonauten zu werden, weil diese die letzten Entdecker neuer Welten sind. Nie war Alan Moores Humor schwärzer.
Mithilfe von Mors, eines Abgesandten von Qys, errichtet Miracleman sogar ein Totenreich, in dem die Essenz von allem, das gelebt hat, nicht nur konserviert, sondern zurückgeholt werden kann. Es ist die größtmögliche Annäherung an ein Paradies auf Erden. Aber selbst jetzt, als die Welt von einer Welle der Liebe überrollt wird, gibt es doch Menschen, die sich dieser totalen Umstülpung verweigern. Zuvorderst Liz, Miraclemans Ehefrau, die mit Mike und der gemeinsamen Tochter Winter bricht. Aber es gibt auch die Unbelehrbaren, die alten Fundamentalisten des Christentums und Islams, die nicht wahrhaben wollen, dass es die neuen Götter gibt und ihre alten niemals existiert haben. Als Survivalists ziehen sie sich in die Wälder zurück und bewaffnen sich.
„Though they can’t threaten us, they sometimes set themselves on fire, which is distressing. Maybe Mors could build an artificial heaven where we’d relocate them after death. That should please anyone.“ (Miracleman 16)
Eine Ahnung des absoluten Grauens schwelt unter der Oberfläche dieser Instant-Utopie. Es ist durchaus schade, dass Alan Moores Vision nur religiösen Fundamentalisten zugesteht, dass sie die neue Ordnung ablehnen. Dabei ist die Entmündigung monströs und die Vorenthaltung jeglichen weiteren Entwicklungspotenzials und Dazulernens endgültig. Zu befürchten ist da schon, dass es die Menschen, die diese Entwicklung durchleben, in den Wahnsinn treiben könnte. Die zynische Pointe liegt darin, dass die alte Menschheit wohl nur noch kurz geduldet und dann hoffentlich den Weg des Neandertalers gegangen und vom „neuen“ Menschen ersetzt sein wird.
Neil Gaiman hat in seiner ersten Storyline „The Golden Age“ schon sehr präzise Geschichten in genau diese Stoßrichtung erzählt: Surreale Erzählungen ohne Vorbild, die gleichzeitig religiös und atheistisch sind und völlig unbekanntes Terrain erforschen. Sie gehörten schon zum Spannendsten, das man lesen konnte, als sie noch nicht abgeschlossen waren. Dass nun die Möglichkeit der Vollendung besteht, ist nicht hoch genug einzuschätzen, und man kann Marvel/Disney nur dankbar sein, dass es zu dieser Chance gekommen ist. Die sehr marginalen, wie bereits erwähnt, ungelenken Zensurmaßnahmen spielen dabei keine Rolle und spiegeln allenfalls die komplexen Verhältnisse der heutigen Zeit zurück.
Die 1980er waren auch nicht immer unkompliziert und einfach.
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