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Alan Moores „Tom Strong“ – More to the picture than meets the eye

VonSuspension of Disbelief“ spricht man, wenn der Betrachtende eines Films oder eines Comics aufhört, die Wahrscheinlichkeit des Gezeigten zu hinterfragen und sich stattdessen völlig der Illusion des Augenblicks hingibt. Menschen können fliegen? Akzeptiert. Ein Affe kann sprechen? Wenn’s dem Frohsinn dient …! Aber Alan Moore verlangt den Leser*innen seiner Serie Tom Strong von 1999 eine wirklich unerhörte Packung „Suspension of Disbelief“ ab – mehr als man bereit ist zu geben. Auf künstlerischer Seite jedoch ist die Reihe ein Gewinner und Zeichner Chris Sprouse wird wohl auf ewig mit dieser Serie in Zusammenhang gebracht werden. So eine kongeniale Symbiose zwischen Skript und Artwork wird für Sprouses speziellen Stil vielleicht kein weiteres Mal möglich sein. Die Story selbst dagegen macht einen zunächst ratlos.

Der kleine Tom Strong wächst unter ganz besonderen Umständen auf. Im Hintergrund ist Pneuman, der kohlebetriebene Roboter, der gleichzeitig ein sehr medienkompetenter Lehrer ist. Alle Abbildungen aus „Tom Strong 1“, © Alan Moore, Chris Sprouse, ABC-Comics 1999.

Die erste Nummer von Tom Strong handelt vom viktorianischen Wissenschaftler Sinclair, der 1899 mit seiner Frau Susan und dem von ihm gebauten pneumatischen Roboter Pneuman die Abgeschiedenheit einer westindischen Insel für seine Experimente sucht. Das ist zunächst Steampunk pur. Pneuman, ein grob gestalteter Blechkasten, läuft mit Kohle, ist aber eine künstliche Intelligenz vor dem Herrn. Sein Speicher besteht entsprechend der Technik der Zeit aus einer Wachswalze. Ein echtes Weltwunder, das das Wunderkind Sinclair da erschaffen hat, der im Übrigen ein typischer Welterklärer alter Schule ist. Seiner schönen Frau bleibt nur die Rolle, ihn anzuhimmeln und ihrem brillanten Mann sämtliche Entscheidungen zu überlassen.

Aber egal, wie sehr sie unter den Entscheidungen ihres Mannes leidet, Sinclair weiß tatsächlich immer alles besser, dieser Superman of Science. Nur während der Geburt seines Sohnes ist er in der völligen Abgeschiedenheit überfordert, was Susan beinahe das Leben kostet, würden nicht die eingeborenen Insulaner im rechten Moment zu Hilfe eilen. Die komplette Kindeserziehung ist dagegen wieder völlig Sinclairs Projekt. Die Mutter hat hier nichts zu melden.

Alan Moore hat sichtlich sein Vergnügen daran, die viktorianische Denkweise mit einer Wish-Fulfillment-Fantasie kurzzuschließen. Die Grenze zur Ironie ist dabei völlig unklar.

Bis zu seinem elften Lebensjahr, so verfügt der Wissenschaftler, soll der Junge in einer speziellen Druckkammer heranwachsen, um seine Anlagen nach allen Regeln der Wissenschaft zu optimieren.  Zudem erhält das Kind speziellen Unterricht, der zusätzlich dafür sorgen soll, dass der junge Tomas nicht nur körperlich, sondern auch geistig der perfekte Mensch sein wird. Deswegen die totale Abgeschiedenheit vom schädlichen Einfluss der Gesellschaft, die Kinder der Insulaner inbegriffen, und nicht einmal der Mutter ist der körperliche Kontakt mit ihrem Kind gestattet. Die Frau hat sich zusammenzureißen zum Wohl des Kindes und der Wissenschaft. Nur was für eine Wissenschaft soll das sein?

Man ist als Jules-Verne- und Steampunk-Fan ja durchaus geneigt, dampfbetriebene Computer, künstliche Intelligenz im 19. Jahrhundert und vieles mehr zu akzeptieren – ist ja auch lustig. Dennoch fühlt es sich falsch an, wenn diese kontrafaktische Spinnerei gegen jedes bessere Wissen auch auf die Erziehungswissenschaft und die Psychologie übertragen wird. Sinclairs Erziehungsmethode ist in jeder Hinsicht monströs – aber Alan Moore schüttelt jegliches bessere Wissen von sich ab und ergeht sich im Wish-Fulfilment. Der makabre Menschenversuch gelingt und aus Tom Strong wird tatsächlich der geniale, empathische und freundliche Supermann, der auch nach 100 Jahren dank des Experiment seines Vaters noch völlig alterslos und stark ist und als Erfinder in der Lage ist, alles zu bauen, was er will.

„Sinclair, er sollte draußen an der frischen Luft sein und mit anderen Kindern spielen.“ „Das Experiment geht vor.“ „Ist es nicht natürlich, dass ich ihn wenigstens einmal in den Arm nehmen möchte, ohne dabei einen Druckanzug tragen zu müssen?“ „Unser einziger Grund hierherzukommen war es, ein Kind allein auf der Basis der Vernunft großzuziehen ohne störende Einflüsse.“

Ich habe Tom Strong nach dem ersten Heft, das mir schon 1999 seltsam vorkam, noch zwölf Hefte weiter gelesen, immer in der Hoffnung, dass irgendwann der große Twist kommen würde. Schließlich war das ein Comic von Alan Moore – auch sein Miracleman aus den 1980er Jahren begann mit mehr als zehn Seiten im Stil von bekloppten britischen Superheldencomics aus einer vergangenen Ära, bevor sich auf einmal Kontext und Blickwinkel verschoben und der tatsächliche Krimi und die Wahrheit hinter der großen Verschwörung ans Licht kamen. Aber diese Story war für Moore 1999 längst auserzählt. In Tom Strong ging es tatsächlich nur noch um Eskapismus. Dieser kommt mir hingegen düsterer vor als Moores Storys der Grim-and-gritty-Ära, als er Superhelden mit der harschen Realität des wahren Lebens konfrontierte. Aber diese Geschichten waren wenigstens menschlich und vermittelten plausible Gefühle. Tom Strong hingegen wird immer ein Monstrum bleiben. Ich glaube nichts von dem, was ich in diesen Comics sehe.

Dennoch glaube ich, dass Alan Moore wusste, was er tat, denn Tom Strongs Origin-Story ist auch nur eine Variation dessen, was Superheldencomics seit jeher taten: Etwas Abscheuliches zu etwas Gutem zu wenden. Auch der Biss einer radioaktiven Spinne (Spider Man) und anderweitige Glorifizierung atomarer und chemischer Zwischenfälle (Hulk, Daredevil) und Experimente (Captain America) waren schon immer leichtfertiger Unfug, doch erst bei Tom Strong beschleicht den Leser und die Leserin das Gefühl, dass irgend etwas an diesem Bild schief ist. So betrachtet, ist der doppelte Boden, der in Alan Moores Tom Strong-Geschichte an keiner Stelle konkret ausformuliert wird, der aber stets unter der Oberfläche vibriert, doch sehr anregend. Ich bin der festen Überzeugung, dass der betonte Optimismus und die sterile Perfektion der Tom-Strong-Figur nur zu verstehen ist, wenn man annimmt, dass die Figur ein Trauma erfolgreich bewältigt hat – und ich gehe nicht davon aus, dass dieses Trauma (nur) der Tod der Eltern war.

Wenn das erste Tom Strong-Heft irritierende Kunst sein soll, ist Alan Moore mit diesem Comic ein Geniestreich gelungen. Aber auch wenn die Irritation zufälliger Natur sein sollte, kann man diesen Tom Strong mit Gewinn lesen. Es steckt eben oft mehr im Bild, als man auf den ersten Blick wahrnimmt.

Immerhin hat das Kind von Sinclair und Susan die viktorianische Denkweise abgestreift. In Tom Strongs Welt des 20. Jahrhunderts herrscht Diversität und Gleichberechtigung. Aber auch Tom Strong kann wie sein Vater einfach alles. Und er hat. Immer. Recht.

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