Im Jahr 2000 erwarb Jason Kingsley, CEO des britischen Computerspieleherstellers Rebellion, die Rechte an der Zeitschrift 2000 AD vom damaligen Rechteinhaber Egmont. 1977 erschien das erste 2000 AD, damals noch bei Fleetway (Egmont besaß die Rechte erst ab 1991). 2023 ergibt sich daraus ein ungewöhnliches Jubiläum: 2000 AD existiert jetzt exakt genauso lange bei Rebellion, wie es davor ohne Rebellion war. Wenn man dazu noch berücksichtigt, dass die Zeitenwende exakt im Jahr 2000 stattfand, passen hier viele Bausteine sehr exakt.
Wie im Interview zu lesen sein wird, kann der Einfluss, der von 2000 AD ausgeht, kaum hoch genug eingeschätzt werden. Ohne 2000 AD wäre es in Amerika wohl nicht zur zweiten „british explosion“ gekommen (die erste waren die Beatles). Es hätte kein Watchmen gegeben, Alan Moore hätte nicht Swamp Thing geschrieben und Neil Gaiman keinen Sandman. Künstler wie Brian Bolland, Kevin O’Neill, Philip Bond, Steve Dillon oder Jamie Hewlett; Autoren wie Grant Morrison, Garth Ennis, Mark Millar oder eben Moore und Gaiman: Sie alle haben bereits in ihren frühen Arbeiten für 2000 AD eine Strahlkraft entfaltet, die auch in den Vereinigten Staaten nicht unbemerkt blieb. In Deutschland wurden diese vielfältigen Talente erst über Bande durch die USA bekannt. Die berühmteste Figur, die aus 2000 AD hervorging ist der behelmte Gesetzeshüter und -vollstrecker Judge Dredd.
Im April 2023 hatten wir Gelegenheit, mit Jason Kingsley sowie Matt Smith, dem verantwortlichen Herausgeber von 2000 AD, ein ausführliches Interview zu führen.
Zunächst möchte ich herzlich gratulieren. 2000 AD befindet sich nun seit 23 Jahren bei Rebellion, und genau so lang hat es davor auch schon existiert. Nun, was mich interessiert: Was war eigentlich der ursprüngliche Anreiz, die Rechte an 2000 AD zu erwerben?
Jason Kingsley: Ich bin 2000 AD-Leser seit Februar 1977 und denke, es handelt sich bei dieser Serie um eine kulturelle Ikone. Es bietet großartige Geschichten, ist unterhaltsam, enorm erfolgreich – und 2000 AD war auch sicher sehr viel einflussreicher als viele denken, und ist es immer noch, dank Matts hervorragender Arbeit als Herausgeber. Schon aus einer rein geschäftlichen Perspektive waren wir überzeugt, dass wir tolle Sachen damit machen könnten. Es ist eine witzige Geschichte, wie es dazu kam. Eigentlich wollten wir nur die Figur Strontium Dog für ein Computerspiel, doch dann hieß es, das wäre schwierig, was seltsam war, denn normalerwiese ist so etwas eine Frage von Ja oder Nein. Also haben wir uns ein paar Jahre eingearbeitet und am Schluss tatsächlich die ganze Firma gekauft. So habe ich auch Matt kennengelernt.
Was hat Matt damals gemacht?
Matt Smith: Ich habe in den 1990ern in einem Verlag gearbeitet. 2000 kam ich an eine Stellenausschreibung von 2000 AD. Als ich vom damaligen Verantwortlichen Andy Diggle die Zusage erhielt, wurde 2000 AD gerade von dieser Computerspielefirma übernommen, Rebellion, also startete ich gleich als Mitarbeiter von Rebellion, zunächst als Vize-Chefredakteur. Das ging so 18 Monate lang, bis Andy 2001 zurücktrat. Ich bin nachgerückt und das Büro zog um nach Oxford. Seither bin ich dort.
Jason Kingsley: Andy war der Herausgeber, als wir die Übernahme verhandelten. Er war damals ziemlich eingespannt und einiges ging wohl über seinen Kopf hinweg, weil wir direkt mit Egmont verhandelten. 2000 AD war für sie nur ein kleines Anhängsel, das sie gerne wieder zu Geld machen wollten. Ein paar mal investierten sie in die Schiene, zum Beispiel gab es den Judge Dredd-Film mit Sylvester Stallone, aber das ist nochmal eine eigene Geschichte und lang vorbei. Sie konnten nie wirklich etwas damit anfangen, aber ich war wirklich nicht sicher, ob es klappen würde.
Jason, du sagtest, 2000 AD hatte einen nachhaltig prägenden Eindruck in den 1970ern und ich kann da nur zustimmen. Gerade erst habe ich mich halb durch I am the Law gelesen, Michael Molchers Buch über Judge Dredd. Es ist interessant, wie er darin über die Geschichte der britischen Polizei schreibt, zum Beispiel das Aufkommen des Bobbys, des englischen Staatsbürgers in Uniform. Es zeichnet nach, wie die Polizei dann in den 1970ern aufrüstete. Damals gab es Ausschreitungen, Arbeitskämpfe, Streiks, Hooliganism. Es war die Thatcher-Ära. Und dann kam Judge Dredd und machte daraus eine Parodie. Das passte einfach und war ein gutes Spiegelbild von dem, was abging und eine Vision, was noch zu erwarten sein würde. Oder würdet ihr das anders formulieren?
Jason Kingsley: Ich denke, Science Fiction ist immer dann am besten, wenn es der momentanen Gesellschaft einen Spiegel vorhält. Man kann sich Themen in einer leicht verschobenen, abstrahierten Weise annähern, was Abstand zur tatsächlichen politischen Atmosphäre ermöglicht und neue Gedanken erlaubt. Mit Judge Dredd thematisieren wir „Law and Order“ und wie es wohl wäre, tatsächlich in so einer Situation zu leben. Die Rechte von Mutanten waren schon Thema. Was bedeutet das überhaupt, ein Bürger zu sein? Welche Rechte hat man denn? Wie weit ist man bereit, seine eigenen Rechte zu kompromittieren, damit Recht und Ordnung erhalten werden können? Wir wissen alle, dass ein Rechtssystem nicht zwingend gleichbedeutend mit Moral ist, aber wo ziehst du die Grenze? Ich denke wirklich, dass 2000 AD, auch wenn es ein Unterhaltungsformat ist, wichtige Fragen an intelligente Leser stellt, damit sie auch hinterfragen, was sie hier eigentlich gerade lesen. Man kann nur staunen, wie viele Leser Dredd eben gerade nicht als Parodie sehen. Und wie viele Leser dann doch. Ich übergebe jetzt besser mal an Matt. Der weiß da besser Bescheid.
Matt Smith: Vor 2000 AD gab es eine Reihe, die hieß Action. Das war 1976. Darin waren größtenteils Stories über das gegenwärtige Großbritannien, Spionagegeschichten, Fußballstories usw. Oft war Action sehr brutal, oft ging es um Hooligans, was ein großes Thema in England zu der Zeit war. Es ging so weit, dass Action von den Kiosken genommen und verboten wurde. 2000 AD war die Science-Fiction-Variante davon. In einem SF-Setting hatte man größere Freiheiten und konnte sich mehr erlauben. Gewalt gegen Roboter und überhaupt in einem SF-Setting bietet eben einen viel größeren Abstand zur Realität. Und Judge Dredd ist schon die Figur, von der du dir wünscht, dass sie einschreitet, wenn gerade mal wieder die Jugend durchdreht und Leute überfallen werden, wenn Chaos und Unruhen herrschen. Dann braucht es Judge Dredd, die typische Dirty-Harry-Figur, erst schießen, Fragen später. Aber der Strip stellt auch die Frage: Wie weit soll das gehen? Polizeigewalt mit „zero tolerance“ gibt es nur auf Kosten von Freiheit und Demokratie.
Würdest du so weit gehen zu sagen, Judge Dredd ist eine positive Figur? Eine faschistische Lesart ist ja durchaus auch mitgedacht. Carlos Ezquerra hat als Spanier in seiner Jugend in den 1960er und 70er selbst noch den Faschismus unter Franco erlebt. Faschistische Symbole haben es auch in die Welt von Dredd gebracht. Ist Judge Dredd nicht sehr ambivalent? Wie soll man ihn lesen?
Matt Smith: John Wagner sagt oft, dass Judge Dredd beides ist: Held und Schurke in einem. Darin liegt das Geniale der Figur. Du kannst Geschichten erzählen, in denen er den Tag rettet, wenn mal wieder ein Riot ist, oder wenn Aliens die Welt angreifen. Und in anderen Stories ist er der absolute Gegner. Man sieht dann auch die Perspektive des normalen Bürgers, dessen Rechte gerade beeinträchtigt werden, während aus Dredds Sicht jeder Einzelne ein potenzieller Straftäter ist und nur er den Deckel draufhalten kann, damit nicht absolute Anarchie herrscht. Ein großartiger Strip. Man kann ihn von allen Seiten betrachten und überlegen: Ist er nun gut oder böse?
Jason Kingsley: Ich denke, deswegen ist es so erfolgreich. In manchen Stories ist er definitiv der Held, in anderen der Schurke. Das lässt ihn sehr menschlich wirken. Wir alle haben gute und böse Anteile in uns und es kommt darauf an, was wir aus diesen Anlagen machen. Judge Dredd ist da wirklich sehr vielschichtig. Eigentlich paradox, denn es gibt ja nicht wirklich eine Entwicklung in dieser Figur, keine Heldenreise oder so. Dredd ist einfach Dredd. Manchmal gibt es Variationen, wird ein bisschen gespielt, aber generell ist er monolithisch. Es ist sehr interpretationsoffen. Man kann Stories 20 Jahre später lesen – so habe ich es getan – und sieht plötzlich etwas Neues darin. Du hast jetzt eine andere Perspektive, bist kein Kind mehr, hast Erfahrungen in der Welt gemacht, dass es nicht immer gerecht zugeht, und so weiter.
Ja, daran erkennt man einen guten Comic. Manchmal frage ich mich selbst: was ist eigentlich ein guter Comic? Bei einer Graphic Novel, die zu sehr ein Buch nachempfindet, denke ich mir dann, das hätte auch ein Roman sein können. Warum dieser Aufwand, einen Comic daraus zu gestalten? Und Judge Dredd? Das geht einfach immer weiter, ohne dass es je wo ankommt. Das ist doch gerade das Schöne. Ich finde, Charakterentwicklung ist überbewertet in Comics.
Jason Kingsley: Ich denke, es kommt völlig und ausschließlich auf die Figur an. Es gibt schon wunderbare komplexe Geschichten mit interessanten Persönlichkeiten über Menschliches und Allzumenschliches. Und manche sind eben sehr reduziert und einfach. Schau dir nur die Superheldencomics an, die im Mainstream gerade so dominant sind. Vieles davon ist sehr schlicht. Ich mach mir immer einen Spaß, indem ich sage, dass die Möglichkeit, Superman herauszufordern, darin besteht, ihm die Superkräfte wegzunehmen. Aber dann ist er nur noch ein Kerl in einem albernen Anzug. Dann kann da aber auch eine relevante Geschichte erzählt werden, in der was passiert. Superpowers machen es schwierig, eine interessante Geschichte zu erzählen. Dredd hat keine Superpower. Kann er fliegen? Ja, aber er braucht ein Jetpack. Und wie kämpft er? Nun ja, er schießt oder schlägt zu. Okay, er nutzt modernste Technik und bionische Körperergänzungen hier und da. Er hat halt auch schon viel mitgemacht. Aber am Ende des Tags helfen ihm keine Superkräfte. Trotzdem ist er irgendwie ein Superheld.
Er ist ja wohl die Verkörperung von Autorität.
Jason Kingsley: Das ist seine Superpower?
Würde ich so sagen. Und „when he speaks he never says it twice“, um auch mal Anthrax zu zitieren. „I am the law“ (der Song) war auch mein erster Judge Dredd-Kontakt. Als ich zum ersten Mal die Anthrax-Scheibe gehört habe, hat das schon Eindruck hinterlassen.
Jason Kingsley: Aber der Song deckt auch nur eine Facette von Dredd ab. Das ist die Herausforderung. Viele denken, die Figur sei eindimensional. Es ist sehr leicht, Dredd falsch zu schreiben. Matt kann da ein Lied davon singen. Oder, Matt?
Matt Smith: Absolut. Es ist echt eine Herausforderung, die Balance zu finden: Ist er der totale Hard-Ass, der Leute umnietet, nur weil sie was auf die Straße werfen? Manche Autoren schlagen bewusst den anderen Weg ein und machen ihn dabei aber zu menschlich. Das kriegen nur wenige richtig hin.
Aber Matt, du hast ihm auch schon mal einen gewissen „human touch“ gegeben, hier in deiner Romanfassung in der Sammlung Judge Dredd – Year One. Ich hab’s gelesen. Es wird schon klar, dass er in Mega City One rigoros und hart durchgreifen muss, trotzdem wirkt er nachdenklicher, menschlicher.
Matt Smith: Ja, richtig (lacht). Der Vorteil von Prosa ist eben schon, dass man die Figuren mehr erforschen kann. Bei Comics musst du dich knapp halten, zügig auf den Punkt kommen. Da habe ich in der Prosaversion schon genossen, das mal anders machen zu können.
Mir hat das gefallen. Aber war es dann leichter zu schreiben? Wenn man endlich mal rauslassen kann, was man schreiben möchte? Oder schreiben sich Comics doch einfacher?
Matt Smith: Es sind aber doch stets um die 30 000 Wörter in diesen Novellas und ich bin jetzt nicht der schnellste Schreiber. Ich brauche für so eine Novella schon fünf Monate. Ein Comicskript hab ich in ein paar Tagen. Das geht schneller, fordert dich weniger. Bei Comics muss man aber sehr darauf achten, dass man dem Künstler ein paar Leerstellen lässt, damit lebendiges Artwork möglich ist. Auch der Künstler muss erzählerische Freiheiten haben. Das Visuelle muss man immer mitdenken.
Ich schätze das durchaus als Herausforderung ein, sich zurückzuhalten. Viel Schreiben ist für mich nie ein Problem gewesen. Infos bewusst zurückhalten dagegen …
Matt Smith: Es ist auch ein Talent, das nicht jeder hat. Es haben sich ja auch bekannte Autoren schon an Comics versucht, ohne dabei aber nennenswerten Erfolg zu haben. Die Gabe überträgt sich nicht so einfach von Prosa zu Comic – oder andersrum.
Kürzlich hab ich mir den Film Judge Dredd angesehen. Ich meine Dredd-3D, die Produktion von 2012. Ich hatte ja erwartet, dass es darin brutal zugehen könnte, aber was da los war ist ja nun wirklich Hardcore. Muss das denn so brutal sein?
Jason Kingsley: Das musst du die Filmemacher fragen. Sie wollten das so und haben das so entschieden. Es ist offensichtlich, dass Andrew McDonald und ich als Produzenten eine beratende Funktion hatten und wir gaben auch grünes Licht. Aber man muss anerkennen, dass Film eine andere Kunstform ist. Es ist wie bei dem Unterschied zwischen einem Roman und einem Comic-Skript. Bei einem Roman hat man es völlig in der Hand. Du musst den Inhalt nur mit dir selbst aushandeln. Irgendwann kommt die Druckerei und der Cover-Artist ins Spiel, aber sonst bist das nur Du. Beim Comic weitet sich das Feld. Da gibt es Letterer, Künstler, ein Team. Film aber geht da noch einiges weiter. Da gibt es ein massives Team von professionellen Mitarbeitern und Kreativen. Ich kann mich daran erinnern, dass diese Storyline im Film um die Droge Slo-Mo wirklich ein Riesending war. Sie waren sehr versessen auf die Gleichzeitigkeit von abstoßender Grausamkeit einerseits und der Schönheit der extremen Zeitlupe. Das war das Hauptthema. Einige Szenen sind wirklich sehr brutal, gleichzeitig wunderschön gefilmt. Es macht den Film wirklich unbequem und verstörend.
Es ist schon eine krasse Vorstellung, dass jemandem die Haut abgezogen wird, während er auf Slo-Mo ist. Aber vielleicht blendet die Droge ja den Schmerz aus, dann ist es noch mal ein völlig anderer Trip. Ich kannte mal jemand mit schweren Verbrennungen an der Schulter. Unter Betäubung konnte er den Ärzten lächelnd zusehen.
Jason Kingsley: Mit solchen Drogen … – nun, wir haben die Wirkung von Slo-Mo nicht erforscht. Wir sehen, dass es die Wahrnehmung extrem verlangsamt und dabei dieser prismatische Effekt entsteht. Alles sieht wunderschön aus. Aber vielleicht eliminiert es den Schmerz oder transformiert ihn. Das wird im Film nie angesprochen. Aber einige Aspekte von Dredds Welt wurden wirklich gut dargestellt. Die klaustrophobischen Inneneinrichtungen, das Hoffnungslose, das Ultra-Brutale. Wie die Gesellschaft sich anpasst. Aber einige der verrückteren Aspekte von Mega-City-One wurden versäumt: das Aussehen der Leute, der Stil, die Mode, die Fahrzeuge, die Roboter, das ganze Zeug. Aber das war so gewollt.
Der Film war schon gut so. Geradeaus, direkt, kurzweilig – und zum Glück kein 150-Minuten-Epos. Das hätte weit weniger Spaß gemacht. Aber man kriegt schon Lust auf mehr, schade, dass es kein Sequel gab. Wie sieht es denn mit der Netflix-Serie Mega-City-One aus? Lässt sich da schon was dazu sagen?
Jason Kingsley: Öffentlich kann ich dazu noch nichts sagen. Die Pandemie ist uns dazwischengekommen, wie ja überall. Aber wir sind dran und immer noch sehr aktiv an der Entwicklung. Wir haben große Hoffnung, dass wir bald mehr dazu sagen können. Ich will mehr 2000 AD-Material in guten Verfilmungen sehen. Das treibt mich schon seit Jahrzehnten um. Aber es müssen die richtigen Deals sein. Was wir nicht sehen wollen ist, wie gute Stories zu schlechten Filmen verwurstet werden. Jedem potenziellen Partner von TV und Kino muss bewusst sein, dass wir ein strenges Auge darauf haben. Lieber habe ich überhaupt keine Verfilmung als eine große Reihe Filme, die unterm Strich absoluter Schrott sind.
Den Schrott hat man dann den Rest seines langen Lebens.
Jason Kingsley: Korrekt.
Ich fand es prima, dass die Figur Judge Anderson im Film war. Das war wirklich eine gute Dynamik.
Jason Kingsley: Finde ich auch. Schon dieser herrliche Dialog, als sie sich weigert, einen Helm zu tragen: das beeinträchtigt meine psychischen Kräfte, sagt sie. Und Dredd sagt, aber nicht so sehr wie eine Kugel. Wie dieser Dialog so beiläufig begründet, weshalb ihr gestattet wird, keinen Helm zu tragen, das ist schon sehr gut erzählt. Sie haben das großartig gemacht. Wegen der 3D-Kameras gab es aber eine Menge technischer Probleme. Diese Kameras müssen immer perfekt synchronisiert sein. Das war für alle ziemlich anstrengend.
Ihr beide habt ja 2000 AD in den 1980ern gelesen, als ihr selbst noch sehr jung wart. Damals war das sehr frisch und neu. Aber reden wir mal nicht nur über Judge Dredd. Wie ist das mit den anderen Serien? Gibt es da wirklich sehr viel Vielfalt und Diversität? Rogue Trooper ist ja auch ein harter Typ mit Waffen und ebenfalls Science Fiction. Und auch Strontium Dog geht in die Richtung, auch wenn er von Carlos Ezquerra schon einen sehr eigenwilligen Look erhalten hat.
Jason Kingsley: Unter Matts Hand ist da schon viel Diversität entstanden. Aber 2000 AD war schon immer divers. Wir hatten schon immer starke Figuren – und sehr divers noch dazu. Da gab es schon mal einen schwulen Bodybuilder, der für den Vatikan arbeitet und dabei auch noch ein Vampir ist [Jason Kingsley redet von Devlin Waugh]. Wir drängen uns aber nicht auf und erzählen ständig, wie toll divers wir sind. Wir erzählen coole Geschichten mit interessanten Figuren, der Rest kommt von allein. Das ist eine unserer Stärken. Früher war 2000 AD ein Comic für Jungs, und das Publikum war in den frühen Jahren ja auch jünger. In den 70ern und 80ern war der „male action hero“ in allen Medien sehr dominant. Das ist aber schon lange nicht mehr der Fall. Science Fiction und Fantasy sind natürlich sehr präsent bei uns, aber nicht ausschließlich. Wir erzählen auch Geschichten über Kreaturen, die überhaupt nichts Menschliches an sich haben: Kingdom ist da ein gutes Beispiel. Matt, erzähl du was darüber. Du machst einen großartigen Job darin, alle Bereiche abzudecken.
Matt Smith: Zunächst mal ist 2000 AD ein Anthologie-Comic, also wollen wir so viel Abwechslung darin wie nur möglich. Auch wenn Science Fiction und Fantasy der Schwerpunkt sind, bietet es doch eine breite Basis von Möglichkeiten. Ich hatte schon viele zeitgenössische Geschichten. Ein gemeinsames Merkmal erkennt man an Haltung und Tonfall, an der Art und Weise, wie Action und Humor zusammenwirken. Beim Schreiben einer Story versuche ich, die richtige Stimmung zu treffen, dass es zu 2000 AD passt. Das Aufregende, das Drama, eine Geschichte muss den Leser so fesseln, dass er auch das Folgeheft nächste Woche haben will. Aber wir haben Geschichten mit vielfältigen Figuren. Aliens, Roboter, Typen mit den unterschiedlichsten Stärken.
Stimmt schon. Das sieht man ja auch an Slaine. Früher dachte ich immer, das wäre sicher so eine Art keltischer Judge Dredd, aber Slaine ist ja so völlig anders. Gibt es eigentlich noch neue Slaine-Geschichten?
Matt Smith: Nein, Slaine ist ziemlich abgeschlossen. Als Slaine 1983 seinen ersten Auftritt hatte, war das eine ziemliche Abweichung vom üblichen Material, hin zu High Fantasy und keltischer Mythologie. Bis dahin war 2000 AD mehr oder weniger ausschließlich SF. Aber Slaine wurde ziemlich schnell eine der beliebtesten Serien, was auch daran liegt, dass es eben überhaupt nicht der typischen Fantasy-Norm entspricht. Der keltisch-mythologische Ansatz hat der Reihe eine völlig eigenständige Textur verpasst. Es ist durch und durch ein interessanter Strip.
Slaine hat mich umgehauen. Es ist ja auch sehr poetisch. Es versetzt dich wirklich in eine völlig andere Denkwelt und ist ein bisschen eigenartig. Ein bisschen erinnert es mich an die Avalon-Bücher von Marion Zimmer Bradley, natürlich eine sehr problematische Autorin, nach allem was man weiß. Aber ich sehe eine Verwandtschaft im erzählerischen Ansatz.
Jason Kingsley: Ich denke, die guten Geschichten von 2000 AD versetzen dich in eine andere Welt. Und oft spielen wir mit der Sprache. Einer meiner liebsten Strips der letzten Jahre ist The Kingdom. Man merkt beim Lesen, wie die Sprache hier völlig anders eingesetzt wird. Für Übersetzer muss das ein Albtraum sein, denn die Sprache hier ist völlig eigenwillig und neu. Es ist wohl offensichtlich eine rein englische Angelegenheit, aber so etwas findet sich bei uns durchaus öfter. Es gab da auch dieses CB-Radio-Ding in Space Trucking [mehr darüber hier]. Mit Sprache verleihen wir den Geschichten oft Kontext und Raum. Das hat gerade auch bei Slaine sehr gut funktioniert, so dass wir auf poetische Weise keltische Mythen zurückspiegeln können – zumindest was wir so an Überlieferungen kennen. Da gibt es ja nicht so viel, es wurde nur wenig aufgeschrieben. Es ist diffus: vieles wissen wir nur aus den Aufzeichnungen der Römer. Die Besatzer haben viel über die Kelten geschrieben. Es gibt aber auch viele Gegenstände aus der Epoche, wundervolle Kunstschätze und Schmuck. Es hat mich überrascht, aber die Römer kamen auf die Insel und wurden zum ersten Mal in ihrem Leben mit Streitwagen konfrontiert. Sie selbst hatten diese Form der Kriegsführung zu der Zeit schon 200 Jahre zuvor hinter sich gelassen. Sie mussten in ihren eigenen Büchereien in alten Schriften nachlesen, wie man gegen Streitwägen kämpft. Sie dachten, die Kelten wären völlig primitiv und haben gar nicht verstanden, was da los war. Für die Kelten, vor allem die Briten, war Kampf und Krieg ein Teil der Persönlichkeitsentwicklung. Für Römer war Kampf und Krieg ein Wirtschaftszweig. Ein echter „Clash of Cultures“ und damit natürlich super Material für 2000 AD. Gut zum Reinversetzen, selbst auskundschaften, Spaß haben.
Diese Idee des „Clash of Cultures“: Ist das etwas, was Pat Mills bereits so angelegt hat, oder waren das schon deine persönlichen Recherchen, Jason? Du bist ja selbst Historiker.
Jason Kingsley: Ein Amateurhistoriker, der es liebt, durch eine trübe Linse zu blicken. Ich frage mich, wie sich das Leben wohl damals angefühlt haben mag und was ich damals wohl so getan hätte. Die Menschen waren sicher schon immer ziemlich ähnlich. Die alten Azteken, die alten Griechen, die Mesopotamier, sie alle waren im Grunde von den selben Bedürfnissen bewegt wie wir. Die Umstände und Kulturen mögen völlig andere gewesen sein, aber es ging darum, Freunde zu haben, Spaß zu haben und sicher durch den Tag zu kommen. Sie wollten geliebt werden, einige hatten den Drang, berühmt zu werden, immer schon. Solchen Ideen gehen wir in 2000 AD nach: Gewöhnliche Leute an außergewöhnlichen Orten.
Ich denke mir oft, 2000 Jahre sind eigentlich kein so unvorstellbarer Zeitraum. Ich bin jetzt 50 Jahre. Wenn ich mir den Tag meiner Geburt vorstelle (1973) und von dort aus in die andere Richtung blicke, dann lande ich weit in der Vergangenheit.
Jason Kingsley: Ja eben. Kürzlich war ich mit meinem Bruder Chris in einem Museum für Computerspiele. Wir haben uns die Ausstellungsstücke dort angesehen und ich denke hier und da, oh, das habe ich auch noch im Regal. Ich will Dinge aus meiner Kindheit eigentlich nicht im Museum sehen. Das ist nicht fair.
Es gab von 2000 AD mal ein zweites Magazin in den späten 1980ern, das hieß Crisis. Ein ziemlich politisches Heft, von dem etwas über 50 Hefte erschienen sind. Darin gab es Sachen wie Third World War von Pat Mills oder Garth Ennis‘ erste Arbeiten, Troubled Souls und True Faith. Würdet ihr sagen, dass der Ansatz, den Crisis verfolgte, heute undenkbar wäre? 2000 AD entführt sehr stark in fremde Welten, Crisis dagegen war völlig gegenwartsbezogen. Wäre ein mögliches Crisis Volume 2 denkbar?
Matt Smith: Eher nicht. Damals, als das rauskam, gab es einen Boom an Erwachsenencomics. 20jährige, 30jährige, 40jährige lasen jetzt Comics, ein völlig neuer Markt. Also ja, als Crisis startete, wollte man dabei sein und konzentrierte sich auf politische Themen. Aber das war dann doch zu nischenhaft, deswegen gab es auch nur 50 Hefte davon. 2023 sehe ich für so etwas keinen Platz.
Jason Kingsley: Manchmal reagiert man als Verlag auch auf Trends und versucht sich in neuen Sphären. Es ist ja auch normal, dass solche Trends kommen und gehen.
Damals in den 1980ern hat sich ja auch Amerika sehr für eure Künstler interessiert – Grant Morrison, Neil Gaiman, Alan Moore und viele mehr – und sie abgeworben, so dass sie für DC-Comics arbeiteten und eben nicht mehr für 2000 AD. Das ist euch sicher damals schon aufgefallen, als ihr selbst noch 2000 AD-Leser wart. Habt ihr das als problematisch gesehen, dass die ganzen guten britischen Autoren nach Amerika abwandern? Möglicherweise, um Superheldencomics zu machen?
Matt Smith: Als Leser war mir das noch nicht so bewusst, aber die Herausgeber verloren ihre größten Talente nach Übersee. In späteren Jahren aber, als Teenager, hat das mein Interesse an amerikanischen Comics geweckt. Ich habe Watchmen gelesen, weil ich wusste, dass es von Dave Gibbons und Alan Moore war, oder Marshall Law von Pat Mills und Kevin O’Neill, den Autoren von Nemesis, the Warlock. 2000 AD war mein Tor zum amerikanischen Comic, und die Sachen der Engländer dort waren interessanter, weniger Superhelden-lastig.
Jason Kingsley: Ich kann nur sagen: das sind alles Freiberufler. Sie können machen, was sie wollen. Wenn sie gerne Superhelden in Amerika schreiben wollen und sich in dem engen Korsett dort wohlfühlen, gerne, ich wünsche ihnen auch viel Erfolg. Aber faszinierend ist doch, dass viele wieder zurückkehrten und wieder für 2000 AD arbeiten wollten. Wir bieten eben von Grund auf einen anderen Ansatz und größere kreative Freiheit als Marvel oder DC. Dort ist man viel strenger. Superhelden lassen nur begrenzten Spielraum für die Kreativität. Wie viele Herausforderungen kann man ihnen denn entgegenwerfen? Sicher, einige leisten in dem Bereich Gr0ßes. Aber 2000 AD ist breiter aufgestellt und erlaubt größeren Tiefgang.
Viele arbeiteten gerade in den 1990ern in Amerika aber auch für Vertigo-Comics, und das war alles andere als Superheldenkram. Vertigo war als Bewegung sicher so wichtig wie 2000 AD in den 1970ern und 80ern.
Jason Kingsley: Absolut. Ich denke, Vertigo verdankt 2000 AD viel in Hinsicht auf Storytelling und einen erwachseneren Ansatz. Wenn ich so darüber nachdenke, war Vertigo so etwas wie das amerikanische Äquivalent zu 2000 AD.
Die ersten zehn Jahre von Vertigo-Comics habe ich fast lückenlos mitverfolgt und auch später bin ich immer dabei geblieben. In späteren Jahren aber passierte es immer öfter, dass Serien schnell wieder eingestellt wurden, so wie Netflix-Serien heutzutage oft über die erste Season nicht hinauskommen. Es konnte sehr deprimierend sein. Nicht alles bei Vertigo hat sich großartig entwickelt. Manches natürlich schon.
Jason Kingsley: Das liegt meiner Meinung nach am Veröffentlichungsturnus. In Amerika erscheinen Comics in der Regel monatlich. 2000 AD dagegen gibt es einmal die Woche, so dass ein ganz anderer Erzählfluss möglich ist. Es ist nicht so schwierig, sich an Vorausgegangenes zu erinnern, wenn es eine Woche später weiter geht. Wenn ich dagegen etwas vor einem Monat gelesen habe, weiß ich oft nicht mehr, was los war.
Die britischen Comics mit ihren kurzen Kapiteln haben wirklich einen guten Erzählrhythmus. Man merkt das bei Comics wie V for Vendetta. Das macht Spaß zu lesen.
Jason Kingsley: Comic ist eine Form, die in jedem Erdteil eine andere Evolution durchlaufen hat. Schon das ist absolut faszinierend. In Amerika entwickelte sich das schon deshalb in eine besondere Richtung, weil es schwierig ist, in einer Nation dieser Größe ein Magazin wöchentlich in Umlauf zu bringen, auch wenn sich das im digitalen Zeitalter gerade ändert. Auch die Größe der Wiedergabe einer Seite spielt eine Rolle. Wie viele Seiten hat man zur Verfügung, seine Geschichte zu erzählen? Wie viel Werbung enthält ein Heft? All diese mechanischen Aspekte haben einen direkten Einfluss darauf, wie eine Geschichte erzählt wird. Das finde ich sehr interessant.
Meine letzte Frage geht an Jason: Machst du eigentlich immer noch dieses Mittelalterfilme für deinen privaten History Channel? Was ich gesehen habe, fand ich sehr interessant und unterhaltsam.
Jason Kingsley: Ich mache sie noch. Das hat jetzt nichts mit Matt oder 2000 AD zu tun, abgesehen davon, dass mich das Erzählen von Geschichten schon immer begeistert. Also ja: Ich habe mit „Modern History TV“ einen eigenen YouTube-Kanal, in dem ich Dinge des Mittelalters untersuche und mit ihnen experimentiere – vor allem, wenn es mit Pferden zu tun hat. Pferde spielen in meinem Leben schon lange eine große Rolle und ich bin ein guter Reiter. Ich kann also vieles aus Reiterperspektive testen, was nicht viele können. Ich lebe auf einer Farm und kümmere mich auch um die Tiere. Ich mache das auch, weil ich mit den neuen Medien experimentieren wollte. Also begann ich mit dieser YouTube-Sache und hatte bald moderaten Erfolg. Aber – und das weiß jeder, der seinen eigenen YouTube-Channel hat – man muss in der Lage sein, immer neuen Content zu liefern und das Niveau auch über die lange Strecke halten. Es geht immer um die lange Strecke.