Christian hat die Weird-Fantasy Autorin Caitlín R. Kiernan für sich entdeckt.

Eine illustrierte Seite aus dem Taschenbuch „Alabaster – Pale Horse“. Die Illustrationen sind von Ted Naifeh. (c) Dark Horse Books.
Christian: Ein Albino-Mädchen, das zu Fuß durch Amerika streift und im Auftrag eines Engels, den nur sie sehen kann, Monster killt. Soweit die schlichte Prämisse, mit der wir in die Welt der Dancy Flammarion eintauchen, der eigenwilligen Heldin aus den Geschichten von Caitlín R. Kiernan. Vielleicht ist Dancy ja verrückt und ihr Engel ist ein Trugbild, aber die Monster, die sie bekämpft sind doch verblüffend real und Dancys Herkunft aus einer fanatischen Familie, die schon immer diese Tradition verfolgte, entrückt sie völlig vom Rest der Welt.
In der Kurzgeschichten-Sammlung Alabaster – Pale Horse verfolgt die Autorin dabei den reizvollen Ansatz, ihre Geschichten entgegen der Chronologie zu präsentieren. Jede Geschichte wurde durch ein Ereignis angebahnt, das bereits in einer Story zuvor angelegt ist, die wir noch nicht kennen, was aber nichts macht, weil uns der Moment völlig reicht. So habe ich auch die Conan-Stories von R.E. Howard und Epigonen kennen und schätzen gelernt – einfach immer mitten rein. Und mal ganz ehrlich: Fühlte sich nicht auch Tarantinos Pulp Fiction fetter und nahrhafter an, als wir uns noch fragten, wie und in welcher Reihenfolge die Szenenschnipsel sich wohl zusammenfügen? Chronologisch ist alles doch plötzlich sehr gewöhnlich. Das Zerschossene bietet den Reiz und den Mehrwert – und ein bisschen Blendwerk ist es manchmal auch.
Aber Caitlín Kiernans Werk erschöpft sich nicht in Short Stories um ihre obskure kleine Heldin mit ihrem alttestamentarischen Sendungsbewusstsein und dem Durst nach Monsterblut. Ihren ersten Auftritt hatte Dancy Flammarion als Nebenfigur im deutlich komplexer – auch konventioneller – angelegten Roman Threshold (auf deutsch Fossil bei Rowohlt). Der handelt von einer aufstrebenden jungen Paläontologin namens Chance und ihrer kleinen Clique, darunter Deke, der das zweite Gesicht hat und Morde aufgrund von Intuition aufklären kann, sowie dessen Goth-Freundin Sadie, die etwas darunter leidet, dass sie eben keine besonderen Fähigkeiten oder Kenntnisse hat. Gemeinsam mit ihrer Freundin Elise brechen Deke und Chance eines Tages in ein abgesperrtes Wasserkraftwerk ein, in dem sich Unheimliches verbirgt. Dort im Dunklen machen sie eine markerschütternde Angsterfahrung, die sie nicht einordnen können, die ihnen Albträume beschert und Elise gar in den Selbstmord treibt. Daraufhin rücken Deke und Chance noch zusätzlich zusammen, was wiederum Sadie noch mehr zum Außenseiter macht, weil sie so viele Erfahrungen nicht mit den Anderen teilt. Und dann kommt plötzlich Dancy, dieses Mädchen aus einer anderen Welt. Vielleicht ist sie aus einer Nervenheilanstalt entflohen oder aber Dancy kommt ganz woanders her – jedenfalls wird Dancy den entscheidenden Impuls geben, dass die Freunde sich den verstörenden Ereignissen stellen und das Geheimnis des Wasserwerks lüften. Horror liegt in der Luft.
Caitlín Kiernans Clash zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen ist wunderbar anregende Lektüre, und sehr offensichtlich ist vieles davon autobiografisch geprägt und entspricht den zwei sehr widerstreitenden Naturen der Autorin. In den 1980er Jahren studierte Kiernan Paläontologie der Wirbeltiere, Geologie und Biologie an der University of Alabama in Birmingham und an der University of Colorado in Boulder. Sie unterrichtete etwa ein Jahr lang Evolutionsbiologie in Birmingham, arbeitete dort am Red Mountain Museum und publizierte mehrere wissenschaftliche Arbeiten zur Paläontologie. 1992 gab sie die akademische Laufbahn auf, um sich fortan dem Schreiben zu widmen (sagt uns Wikipedia). 1996 übernahm sie die Sandman-Spin-off-Serie The Dreaming und gestaltete den wohl interessantesten Run der Reihe (sage ich). Endlich gab es wieder eine lang angelegte Erzählung mit ungewöhnlichen Figurenkonstellationen und Entwicklungen, teils so drastisch, dass sie bald als nicht kanonisch erklärt wurden – was für ihren Ansatz spricht. Wenigstens hat sie etwas gewagt.
Der Roman Threshold von 2001 lässt, sofern man den Text zu zu deuten weiß, viel von Kiernans Persönlichkeit durchscheinen, selbst wenn sie sich gegenüber einer allzu eindeutigen Interpretation verwahrt. Die Figur der fokussierten Wissenschaftlerin Chance repräsentiert Kiernans naturwissenschaftliche Seite. Dancy ist der irrationale Gegenpol und bildet die Liebe zur weird fantasy ab, die aber in Threshold/Fossil weniger als Genre als fast schon als allumfassendes Lebensgefühl in Erscheinung tritt. Dancy Flammarion hat nie eine ordentliche Bildung erfahren, ihr Hintergrund ist völlig von Mythen geprägt, von einer fanatischen Familie, von Engelserscheinungen, völliger Hingabe an die Bibel ebenso wie Aberglauben. Sie verkörpert den Menschen jenseits von Wissenschaft und Ordnung, geworfen in eine dämonische Welt voller Gefahren; die Werkzeuge zum Ordnen fehlen ihr, stattdessen bleibt ihr ein Engel, der sie berät – und ihr Schwert:
„Licht und Dunkelheit, beide sind Dancys Feind“.
Dancy ist eine traurige Figur. Eine Kriegerin zwischen Himmel, Wahnsinn und Hölle, deren Schale niemand knackt. Hilfe von außen ist nicht möglich – aber sie verdient unser Mitgefühl.
Chance dagegen ist Wissenschaftlerin und in der Lage, der Welt Sinn und Ordnung zu geben:
„Du glaubst nicht einmal an Gott“, sagt Dancy. „Wo soll ich anfangen?“ Chance atmet tief ein, füllt ihre Lungen mit all der Helligkeit, die durchs Fenster hereinscheint, saugt sich voll mit der Alltagsluft der Normalität, wappnet sich mit Wissen und Bildung, damit die Realität ihr Mut einflößt.
Caitlín R. Kiernan kontrastiert geschickt die Freude am wissenschaftlichen Denken mit der Faszination fürs Irrationale und Traumlogische. Das schafft eine faszinierende Balance, die sehr ihren eigenen, ebenfalls sehr widersprechenden Berufungen entspricht. Keine Welterklärung ist geeignet, alles zu erfassen, die Wissenschaft ist das existenziell notwendige Korrektiv zum Chaos, sie hilft uns, die Angst zu überwinden und den Boden unter den Füßen erst sicher zu machen. Aber die Natur des Menschen ist oft nur zu verstehen, wenn man sich gegenüber dem Irrationalen nicht verschließt. Wie oft vermessen wir, was wir doch nicht verstehen?
Als ich anfing, Caitlín R. Kiernan über social media zu folgen, rieb ich mir die Augen und fragte mich zunächst, ob es sich denn tatsächlich um die Autorin der Dreaming-Hefte handeln könne, denn der Fokus ihrer aktuellen Beiträge drehte sich sehr um Paläontologie und akademisches Leben. Sie ist der Wissenschaft eben doch immer noch treu geblieben. Und sie schreibt viel über die Politik von Trump, Musk und Vance, in deren Sinne gerade so vieles von dem zerschlagen wird, was Ordnung schafft. Chaos hat Konjunktur. Bibel kommt vor Wissenschaft. Intuition schlägt Methode. „Haben wir schon immer so gemacht“ schlägt Forschung. Neu erfundene Regeln zerstören Verlässlichkeit. Phrasen verdrängen Diskurs.
Das derzeitige Amerika bestätigt auf bizarre Weise die Erosion des Vertrauten, die in Threshold/Fossil im Reich der Fantasy gebannt bleibt. Auch deswegen erscheint mir ihr Schreiben gerade heute sehr relevant. Eben hat sie angekündigt, dass bald eine neue Geschichte mit Dancy Flammarion erscheinen wird. Ich bin sehr gespannt, wohin die Reise noch gehen wird.
Hier geht es zu Caitlín R. Kiernans Blog.