In Währenddessen erzählt uns Christian diesmal von einem Industrial-Konzert in der Provinz und den Filmen von Jörg Buttgereit.
Christian: Im Jahr 1995 brachte die mittelfränkische Band Urban Instinct (zwei Kerle, eine Frau, alle Anfang 20), einen Hauch von Berlin in die örtliche Dorfdisko. Deren Industrial-Sound lag ziemlich quer zum üblichen Rockkatalog. Programmierte Maschinendrums waren ein absolutes Novum für Metalmusik am Dorf und meine Freundin fand den Rhythmus gleich so hart, dass sie nach draußen ging, weil sie Angst um ihren Herzrhythmus hatte. Oder war das nur die Ausrede? Die Bühnenshow war nämlich ebenfalls gleichermaßen vermessen wie ambitioniert und neben fiesem Stroboskop waren da noch zwei Fernseher, auf denen Schockvideos, Kunst und allerhand queeres Zeug zu sehen war, alles irgendwie zwischen Nekromantik und Wochenschau. Definitiv nicht die typische Disse-Lightshow in Rot, Grün, und Blau.
Industrial war auch, was Jörg Buttgereit im Sinn hatte, als er in den 1980ern seinen legendären Nekromantik drehte. Die Inspiration zu seinen Bildern kam ihm durch die krassen Projektionen, die auf Berliner Industrial-Konzerten zu sehen waren, so Buttgereit im Interview, das dem Mediabook zu seinem Film Todesking beigefügt ist. Buttgereit wollte nie ein „Horror“-Regiesseur sein, sondern irgendwas industrialmäßiges machen, aber da er kein Instrument konnte, probierte er Film. Eigentlich ist Jörg Buttgereit ein Fan von schönen Dingen wie 2000 A.D.-Comics, Spiderman, dem Hulk, Godzilla-Filmen usw., aber es schlägt eben auch dieses zweite Herz in seiner Brust, das gerne in Abgründe guckt. Ich habe mich kürzlich an seinen dritten Film, Todesking, gewagt und bin seither ganz Feuer und Flamme.
Zum ersten Mal in Berührung kam ich mit Buttgereits Filmen in den frühen 1990ern durch die VHS-Szene auf dem Schulhof – Nekromantik war damals der Zweitfilm auf meiner Hellraiser-Kassette. (Der Kumpel, von dem ich die Filme geliehen bekam, by the way, lebte an der Friedhofsmauer, ich wohnte im Nachbardorf auch an der Friedhofsmauer. Kann die Welt vielleicht tatsächlich mit so einfachen Korrelationen erklärt werden?) Ich erinnere mich, dass mich Jörg Buttgereit vor ein paar Jahren schräg angesehen hat, als ich ihm gestand, dass ich bis dato nie für einen Film von ihm etwas bezahlt hatte. Ich möchte dies ändern, weil ich mich seit dem Comicgate-Interview von 2016 ein bisschen in der Verantwortung sehe, sein Werk richtig zu kennen.
Mit so extremen Underground-Sachen habe ich durchaus etwas Berührungsängste, deshalb hab ich ganz vorsichtig mit einer koreanischen Pressung von Todesking angefangen, die ich billig auf Ebay fand. Sogleich fand ich mich ins VHS-Zeitalter zurückversetzt bei der miesen Bildqualität dieser Kopie, den asiatischen Untertiteln und der kruden Zensur, die Genitalien durch einen fetten schwarzen Punkt wegblendet. Da hat Buttgereit in seinem Film sehr viele Tabugrenzen überschritten, aber gerade die bei uns eher unproblematische Nacktheit ist in Asien offensichtlich das größte Problem. Aber mal sehen, in welche Richtung sich das Kunstverständnis bei uns entwickelt. Ist ja ständig im Fluss.
Wer billig kauft, kauft zweimal. Ich fand den Todesking überraschend unterhaltsam, darüber hinaus professionell gemacht, daher griff ich bald – und wieder musste ich über meinen Schatten springen – zum luxuriösen Mediabook. Der Film besteht aus sieben Episoden, die durch einen okkulten Kettenbrief miteinander in einem losen Zusammenhang stehen und in denen stets etwas mit Selbstmord oder Amoklauf passiert. Erzählerisch ist das sehr abwechslungsreich und dabei auf visueller Ebene ebenso ideenreich umgesetzt. Die Spezialeffekte sind aufwendig und erkennbar mit viel Hingabe gestaltet. Dabei fällt vor allem auf, wie viel die Haptik echter Puppen und überhaupt echten Materials zur Wahrhaftigkeit des Gezeigten beisteuert. Die 16mm-Filme von Jörg Buttgereit (bzw. bei Nekromantik Super 8) sind auch ein Fest des Analogen.
Unter der Zusatzmaterial des Mediabooks findet man unter anderem einen unterhaltsamen Audiokommenetar mit Jörg. Bei so sehr speziellen Filmen ist es immer nice to have, wenn man etwas über die Hintergründe erfährt und Buttgereit ist außerdem ein gutmütiger, gutgelaunter Erzähler, der nie langweilt. Ebenso kann man auch das Diskussionspanel, in dem er ebenfalls 50 Minuten lang Reden und Antwort steht, mit großem Gewinn ansehen. Der beigefügte Soundtrack ist ebenfalls die Anschaffung des Mediabooks wert. Filme werden durch eigens komponierte Soundtracks in meinen Augen grundsätzlich aufgewertet und die Musik von Daktari Lorenz, Hermann Kopp und John Boy Walton trägt auch ohne Film und wird von mir gerne und oft gehört. Zuguterletzt steuert auch der Filmexperte fürs Unterschlagene, Prof. Marcus Stiglegger, einen sehr persönlichen Text dem Booklet bei und rundet die Veröffentlichung damit gut ab. (Richtig rund wird das Mediabook durch die beiden Todesking-Tattoos. Ein todcooles Emblem und ein schönes Gimmick.)
Gerade lese ich den Nekromantik-Comic von Weißblech. Der Comic lässt Nekromantik ja eher wie so ein EC-Comic aussehen. Tatsächlich war das, was Buttgereit und seine Kumpels in den 1980ern in Berlin abgezogen haben, aber schon ziemlich rigoros, während die Comics den Stoff durch ihre Abstraktion filtern und zähmen und dabei weder die Kompromisslosigkeit noch die Schönheit erreichen, die Nekromantik 2 durchaus zu einem poetischen Juwel machen (Todesking halte ich allerdings für zugänglicher und ist weniger makaber). Nachdem ich nun einen Großteil des Buttgereitschen Filmoeuvres inzwischen angesehen habe, ist meine Bewunderung für so viel Kreativität, Kunstwillen und Durchhaltevermögen fast grenzenlos. Irgendwie visionär. Aus gutem Grund wurden die Filme seither nicht mehr vergessen.
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