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Währenddessen… (KW 1)

Zwei Filme: Ammonite und Love. Christian lädt zum Doublefeature mit anschließender Diskussion.

Film 1: Frances Lees „Ammonite“

Mary Anning, eine Frau des 19. Jahrhunderts, war eine berühmte Fossiliensammlerin und Paläonotologin. Als Autodidaktin bewegte sie sich außerhalb des wissenschaftlichen Elfenbeinturms, doch für ihre sorgfältige Arbeit wurde sie von der Wissenschaft geschätzt. Sie wohnte in Dorset am Südufer Englands, Fundort zahlreicher Fossilien, und kannte sich dort aus. Förderung erhielt sie von einem Fossiliensammler namens Thomas Birch.

Bereits als Kind fand sie die Versteinerung eines Ichthyosaurus-Skeletts, das bald ans British Museum verkauft wurde. In Frances Lees Film Ammonite (2020) wird angedeutet, dass Mary ihr Finderruhm lange vorenthalten wurde, stattdessen wurde der Mann, der den Ichthyosaurus von ihr erwarb, als Finder ausgewiesen, ganz im Sinne der Annahme, dass die Frau – bzw. das Mädchen, die hochtalentierte Mary Anning war damals 11 – das Skelett eher zufällig gefunden habe, erst der Mann habe den Wert erkannt. Mary Anning wurde 1846, einige Monate vor ihrem frühen Tod durch Brustkrebs, zum ersten Ehrenmitglied des neuen Dorset Country Museum ernannt, ein regionales Museum in ihrer Heimat. Danach geriet sie lange Zeit in Vergessenheit. Erst seit den letzten Jahrzehnten wird ihre Leistung angemessen gewürdigt.

Frances Lees Ammonite, mit Kate Winslet in der Hauptrolle, nutzt die reale Geschichte der Mary Anning, um einen wunderschönen Film im Spannungsfeld von Geschlechtergrenzen, Klassenunterschieden und sexueller Orientierung in Szene zu setzen: Der wohlhabende Paläontologe Roderick Murchison kommt auf Besuch in Mary Annings kleiner Hütte am Südufer Englands und bittet die Sammlerin, sich seiner Ehefrau Charlotte (Saoirse Ronan) als Gesellschafterin anzunehmen, die nach einer Fehlgeburt melancholisch geworden ist.

Es bahnt sich eine einerseits vorhersehbare, dennoch plausible Annäherung zwischen der herben, spröden Mary Anning und der stillen Charlotte an. Die gegenseitige Zuneigung löst bei Mary Anning zunehmend die Verbitterung über ihr entbehrungsreiches Leben, Charlotte dagegen schöpft neuen Lebensmut. Es entfaltet sich eine Liebesbeziehung, die zentrale Liebesszene ist wunderschön inszeniert – was teils als überästhetisiert kritisiert wurde, aber so wünscht man sich Kino ja auch ein Stück weit. Das Leben ist von nun an für beide ein anderes, zumindest bis Roderick Murchison zurückkehrt und seine Frau wieder einsammelt.

Nun beginnt der interessanteste Part des Films. Charlotte schmiedet fortan einen Plan, die arme Mary Anning aus ihrem kargen Leben zu befreien und ihr an ihrer Seite ein Leben im Wohlstand in einem warmen Zuhause zu ermöglichen. Aber ob sich die Intensität eines rauschenden Sommers auf diese Weise konservieren lässt?

Im Grunde erzählt Frances Lee eine schon sehr oft erzählte Geschichte. Das schmälert das Vergnügen an dem Film nicht, der vor allem durch die eindrucksvolle Kate Winslet, die sorgfältige Ausstattung, der Backstory über Fossilien und die hübschen Kostüme einiges an Schauwerten liefert.

Film 2: Gaspar Noés „Love“

Von Gaspar Noé fühle ich mich regelmäßig emotional ziemlich abgeholt: das gilt noch mal im besonderen Maß für Love, der von gewöhnlichen Menschen in gewöhnlichen Situationen handelt, ohne Verbrechen, Vergewaltigung oder anderen unangenehmen Dingen. Trotzdem packt dich der Film von der ersten Szene an voll.

Ein junger Filmstudent namens Murphy lebt mit seiner jungen Frau und Kind in seiner Wohnung, die ihm fremd geworden ist. Nicht länger ist es seine Cave, jetzt teilt er alles mit Omi (so heißt sie) und seinem Kind, muss den Alltag organisieren, muss sich ironisches Gemecker über seine bereits abzeichnende Plauze gefallen lassen; aus dieser Falle kommt er nicht mehr raus. In einer Videokassettenhülle hat er noch ein letztes kleines Drogenstash, aber das hält er sorgfältig versteckt. Ein trauriges Dasein – und die inneren Monologe erinnern ans eigene Leben, ans Ende des Studentenlebens, ans „Erwachsenwerden“.

Aber dann erhält Murphy einen Anruf von der Mutter seiner Ex, Electra. Diese sei seit Monaten verschwunden und die Mutter befürchtet, Electra könne sich etwas antun. Ab diesem Moment wir Love zur non-linearen Erzählung und wir lernen in einer ausgedehnten Rückblende einen weit enthusiastischeren Murphy aus unbeschwerten Tagen kennen. Jetzt erleben wir mit ihm die Beziehung zu Elektra noch mal neu, dann deren gemeinsame Beziehung zu Omi, Liebe zu dritt, in wechselnden Konstellationen, begleitet von gegenseitigen Versprechungen und Beteuerungen, die sich schnell als völlige Lebenslügen und stets uneinlösbar erweisen. Man will libertär sein, sich gegenseitig sämtliche Freiheiten gewähren, und doch brechen sich bald uneingestandene Besitzansprüche Bahn. Electra sollte Murphys Liebe fürs Leben sein – aber alles was es braucht ist ein gerissenes Kondom beim Sex mit der Anderen und alle Träume stürzen ein.

Das klingt nach wenig, aber die non-lineare Erzählweise, die nahbaren Figuren und die improvisierten Szenen machen den Film hinreißend lebensnah. Und natürlich sind es die zahlreichen Liebesszenen, für die der Film durchaus berüchtigt ist und die von Gaspar Noe mit vollem Willen zur Provokation so in Szene gesetzt sind. Geschlechtsverkehr mit Ejakulation gibt es gleich in der allerersten Langszene. Ich frage mich bei solchen Szenen schon auch nach der Ethik und wie es möglich sein kann, dass Schauspieler*innen, die ja nicht aus der Erotik-Branche kommen, so weit gehen können. Noé hat nach eigener Aussage mit einem befreundeten Paar zusammen gearbeitet. Anders wäre diese Intimität gar nicht möglich gewesen.

Das ermöglicht auch einen guten Blick auf sich selbst. Man sieht, was man nie sehen wollte, denn anders als im Pornofilm zeigt der Film, obwohl explizit, echte Intimität. Damit geht die Identifikation sehr nah und man ist mehr als gewohnt involviert in die Handlung. Gaspar Noé, der eigentlich stets mit innovativen Stilmitteln arbeitet und offensichtlich gar nicht langweilig inszenieren kann, ist hier ein echtes Bravourstück gelungen. (Auch wenn die zentrale 3D-Ejakulationen doch etwas too much ist. Zu sehr in your face, sozusagen, pardon the pun.)

Die Details im Hintergrund machen den Film zum reizvollen Suchspiel. So ist Murphys Studentenbude von vorne bis hinten mit Filmplakaten beklebt, von Salo über Taxi Driver bis hin zu D.W. Griffiths Birth of a Nation, was Murphy ganz nebenbei und dennoch eidringlich als Film-Buff mit Hang zu kontroversen Stoffen charakterisiert. Murphys Wunsch, Großes zu leisten ist am Ende leider größer als seine tatsächliche Fähigkeit dazu. Gefühl und Wunsch zerschellen an der Realität.

Der Soundtrack ist exquisit: Die Liebeszene, in der Murphy Omi schwängert, ist mit der Kindermelodie aus Dario Argentos Profondo Rosso untermalt (die Szene, in der die Mutter vor den Augen des unschuldigen Kindes den Vater tötet, wie passend). Und dann „Maggot Brain“ von Funkadelic – ein ausuferndes Gitarrensolo, dessen gesprochenes Intro wir zwar nicht im Film hören, das Kennern des Stücks aber dennoch als passend im Kontext des Films erscheint:

„Mother Earth is pregnant for the third time, for y’all have knocked her up. I have        tasted the maggots in the mind of the universe − I was not offended, for I knew I had to rise above it all, or drown in my own shit.“

Denkt man mit, was im Film selbst unter der Oberfläche bleibt, dann wirkt sogar dieser unausgesprochene Text programmatisch. So kann man immer weiter suchen im Kontext des Films und stößt auf immer neue Ideen.

In Deutschland gab es zunächst Probleme mit einer Freigabe. Nicht nur wegen der Pornografie, auch wegen kleiner Details wie der Tatsache, dass Omi ist zum Zeitpunkt des Kennenlernens des Paares behauptet, sie sei „fast schon 17“, was sie als Minderjährige (nur das Alter der Figut, nicht der Schauspielerin) ausweist. Macht das den Film bereits zur Jugendpornografie? Zum Glück entschied man zuletzt zu Gunsten der Kunst und einigte sich darauf, dass Filmen die gleiche erzählerische Freiheit zuzugestehen ist wie der Literatur: Viktor Nabokovs Lolita ist aus gutem Grund unbeanstandet. Eine Selbstverständlichkeit sind solche Entscheidungen nicht.

Von Jugendschutz halte ich eine ganze Menge. Wir leben in einer Zeit, in der Medieninhalte entfesselt und ungefiltert auf uns einprasseln. Kalte, unangenehme Pornografie ist mit geringsten Internetkenntnissen für alle verfügbar und die fast vollständige Politisierung sämtlicher Lebensbereiche ist in ihrer Ausweglosigkeit maßlos bedrückend, da wirkt der Versuch, die Verfügbarkeit von Medien wenigstens ein Stück weit zu strukturieren und zu bewerten rührend und ehrenwert. Ich will das nicht mal als anachronistisch bezeichnen. Der Wunsch nach Ordnung kann nie anachronistisch sein. Eine Zensur von Gaspar Noés Film wäre aber eine fehlgeleitete Maßnahme. Der Film ist so berührend wie reflektiert, selbst wenn der Wille zur Provokation offensichtlich ist. Aber diese entpuppt sich auch als entlarvender Spiegel. Gaspar Noé hat durchaus recht, wenn er im Interview sinngemäß sagt, dass mit einer Kultur etwas nicht stimmen kann, in der gewalttätige Filme (auch seine eigenen, siehe Irreversible) unbeanstandet bleiben, gerade bei Love aber die Grenze des Unangemessenen überschritten gesehen wird. Im Gegensatz zu so kommerziellen Blockbustern wie Saw, Terrifier oder 24 mit Kiefer Sutherland gibt es in dem Film nichts Anstößiges – eigentlich! Aber das Zeigen von Intimität ohne Filter oder Codes, die das Gezeigte verklausulieren, ohne Abstraktion, ohne Verfremdung, ohne Möglichkeit, sich zu distanzieren, ist eben immer noch unerhört. Ich schätze, der Film existiert aus eben diesem Grund.

Wer mehr über das Kino von Gaspar Noe erfahren möchte, dem empfehle ich die ebenso aufschlussreiche wie unterhaltsame Folge des Podcasts Projektionen/Kinogespräche.

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