Nach seinem letzten Kampf hat sich Profiboxer Jack Doyle eigentlich aufs Land zurückgezogen. Weg von der Großstadt, den Ruhm und das Geld hinter sich lassend. Doch als sein Promoter Theo anklopft und ihm einen erneuten, diesmal mit Sicherheit sauberen Kampf gegen seinen alten Rivalen schmackhaft macht, zieht es ihn doch wieder zurück in sein früheres Milieu
Dort hat währenddessen Clubbesitzer Vincenzo seine Finger in allerlei kriminellen Machenschaften. Wir schreiben das Jahr 1933, wenige Tage vor dem Ende der Prohibition. Und die Rückkehr Jack Doyles in den Boxring soll vor dem Zeitenwandel für die zwielichtigen Gestalten der Metropole noch einmal richtig Kohle einspielen.
Zur gleichen Zeit findet auch der junge, begnadete Bluesmusiker RJ den Weg in Vincenzos Etablissement. Zuerst ist er froh über die Gelegenheit, seine Musik einer breiten Öffentlichkeit präsentieren zu können. Doch schnell lernt er die Kehrseite der Medaille kennen: Skrupellose Bosse, die Künstler mit allen Mitteln exklusiv an sie binden wollen und vor nichts zurückschrecken.
Der Doppelband Blue Note trägt den Untertitel „Die letzten Stunden der Prohibition“. Und in der Tat stellen die Kreativen Mathieu Mariolle (Shanghai, Smoke City) und Mickaël Bourgouin (Sky Doll, Codex Angelique) den Aspekt der auslaufenden, amerikanischen Prohibitions-Ära immer wieder stark heraus. Wie ein Countdown werden die verbliebenen Tage heruntergezählt, als würde sich eine für den Plot des Comics relevante Zuspitzung der Ereignisse verfolgen lassen. Letzten Endes ist die Idee, diese 30er-Jahre-Noir-Geschichte durch ein exaktes Datum noch konkreter zu verorten, zwar nett, als besonders wichtig habe ich diese Tatsache beim Lesen nun allerdings nicht empfunden. Zumindest nicht so wichtig, um darauf ein Storygerüst zu platzieren.
Gelungener empfand ich da schon den überraschenden Perspektivwechsel nach dem ersten Teil. Denn im Prinzip verbergen sich in Blue Note gleich zwei unterschiedliche Comics: Das erste Album erzählt vom Kampf des Jack Doyle, das zweite von RJs ersten Gehversuchen als Musiker. Beide Episoden lassen sich getrennt voneinander lesen und fokussieren sich stark auf ihre jeweilige Hauptfigur. Die Handlungsstränge laufen parallel nebeneinander und in einem überschaubaren, lokalen Rahmen ab.
Autor Mariolle schafft es, beide Plots eigenständig glänzen zu lassen. Auf der einen Seite ein hart arbeitender Haudegen, der mit ehrlicher Sportleistung überzeugen möchte, auf der anderen der unbeschwerte, unerfahrene Künstler, der seine musikalische Talent mit der Welt teilen möchte. Beides sind gute Kerle, die im Großstadtdschungel, mit all seiner Korruption und illegalen Geschäften, unterzugehen drohen. So richtig überzeugen die Storylines aber erst im Spiegel der jeweils anderen. Denn hier gewinnen sie durch zaghafte, vereinzelte Überschneidungen und Auftritte der teilweise gleichen Nebenakteure an Bedeutung. Und erst ganz am Ende kann man als Leser das Geschehen einordnen.
Blue Note ist dabei einen geschickt verwobene Geschichte zweier Einzelschicksale. Man könnte auch sagen, dass es die amerikanische Metropole ist, die den Rahmen und den Handlungsort für die parallelen Stories liefert. Das erinnert konzeptionell letztlich sogar ein wenig an Frank Millers Sin City, bei dem sich Plots zeitlich teilweise auch überlagern, Figuren in mehreren Storylines auftauchen und quasi immer ein neuer Winkel einer Stadt beleuchtet wird. Natürlich geht Mariolle in seinem Werk in dieser Hinsicht nicht ganz soweit, denn Blue Note ist im Vergleich dazu doch eher ein klar abgesteckter Zweiteiler mit aufeinander abgestimmten Inhalten, ein Sin City im kleinen Rahmen, wenn man so will.
Mickaël Bourgouin, der mit Mathieu Mariolle bereits an der Serie Der Pfad des Dao zusammenarbeitete, leistet an dem vorliegenden Comic Großartiges. Sein Strich passt perfekt zu dem Geist der 1930er Jahre. Seine Inszenierung der Boxkämpfe, bei denen er mal jeden Hintergrund in den Panels ausblendet und die Akteure vor schwarzem Hintergrund kämpfen lässt, ein weiteres Mal ein ganzseitiges Bild vor weißem Motiv zeichnet, ist äußerst gelungen. Doch noch viel mehr imponiert die bildgewaltige Darstellung der immer präsenten Bluesmusik. Wie auf dem Cover bereits zu beobachten, wird diese mit fließenden Wellen symbolisiert, die explosionsartig aus den Instrumenten schießen. Ein fast rauschhaftes Element, das Bourgouin in weitflächigen Aufnahmen umzusetzen weiß.
Zwei starke Erzählungen mit leichten Verbindungen zueinander; das Artwork ist dabei ein echter Augenschmaus
Splitter-Verlag, 2015
Text: Mathieu Mariolle
Zeichnungen: Mickaël Bourgouin
Übersetzung: Marcel Le Comte
144 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 24,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-134-5
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