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Phantasmen

Kai Meyer ist ein Autor, der nicht leicht Grenzen akzeptiert. Was bedeutet das im Falle des aktuellen Comics Phantasmen, den Jurek Malottke ins Bild gesetzt hat?

Rain, das Mädchen mit den Dreads. Alle Abbildungen © Splitter

Bei Meyer gehen historische Szenarien nahtlos über in Fantasy, Wissenschaft ist auch nur Zauberei mit anderen Mitteln – ein Mensch aus dem Mittelalter hätte die moderne Technik sicher auch als Hexenwerk empfunden. Auch kennt Kai Meyer keine Berührungsängste mit vertrauten Motiven, die er mit grenzenloser Inspiration weiterdenkt und variiert, besonders sichtbar ist das in der Adaption von Wolkenvolk, das – auch dank Ralf Schlüters Zeichnungen –  sehr an Filme wie Tiger and Dragon oder Ein Hauch von Zen erinnern lässt, dann aber ebenso schnell einen Hauch von Arzach bietet und das alles schlussendlich mit originär Meyerscher Wolkentechnologie verquickt, Zauberei im Gewand der Wissenschaft. Kai Meyer inszeniert Träume.

Da ist es nur konsequent, dass die Hauptfigur in Phantasmen den Namen Rain hat und Dreadlocks trägt, denn ein bisschen schillernd müssen Kai-Meyer-Figuren bereits von außen sein. Rains Schwester dagegen hat leicht autistische Züge, den Kopf voll ungefilterten Wissens, und ist sozial eher sperrig. Damit kann man gut erzählen, also werden die beiden jungen Frauen in ein abstruses Szenario geworfen, in dem die Toten als Geister auf die Erde zurückkehren und sich in Form leuchtender Lichtgestalten manifestieren – und weil Kai Meyer sowohl die Wissenschaft als auch die Pseudo-Wissenschaft liebt, gibt es auch bald Eckdaten und Gesetzmäßigkeiten zu diesen Geistererscheinungen. So manifestieren sich die Geister seit einer Zero Hour, in der sie zum ersten Mal auftraten, mit jeder verstreichenden Stunde in gleicher zeitlicher Distanz auch rückwirkend in die Vergangenheit. Mit etwas Übung lässt sich also berechnen, zu welchem Zeitpunkt sich die Geister der Opfer eines Flugzeugabsturzes manifestieren, dessen Absturzzeitpunkt man ja schließlich kennt.

Manchmal beginnen die Toten zu lächeln, das sind die sogenannten „Smilewaves“. Dann muss man so schnell wie möglich Abstand nehmen, denn die Nähe zu den Toten führt während einer Smilewave zu Herzversagen, eine Beobachtung, die von einer auf den Plan tretenden Söldnertruppe skrupellos erforscht wird, indem Gefangene in die Nähe einer Smilewave gebracht werden, um deren Tötungsradius zu erforschen. Jede neue Erkenntnis birgt das Potenzial ihres Missbrauchs eben sogleich in sich.

Eigentlich schade, dass Kai Meyer immer so stark auf Gefahr und Spannung setzt, denn die Origin Story der Geisterscheinungen aufgrund eines fehlgeschlagenen Experiments von einem religiösen Fanatiker und einem Illusionisten hat einiges für sich. Die Verquickung von Wissenschaft und Zauberei ist tatsächlich der überzeugendste Teil der Erzählung, aber dann kommen die Söldner, das Ende der Menschheit steht bevor und der Bedrohungsplot kommt nicht mehr zur Ruhe. Hier hätte Kai Meyer stärker dem Zauber seiner Ideen vertrauen sollen. Frostfeuer, die von Marie Sann gestaltete Meyer-Adaption von 2013, war in dieser Hinsicht die bisher schönste Kai Meyer-Arbeit in Comicform.

Unheimliche Orte wirkungsvoll in Szene gesetzt. Hört ihr auch die geisterhafte Musik?

Dennoch ist dem Künstler Jurek Mallotke eine beeindruckende Adaption gelungen. Mit hohem Abstraktionsgrad gelingen ihm impressionistische Panels, die die Geschichte mit Schwung vorantreiben. Manchmal drängt sich die literarische Vorlage in den Vordergrund, und Malottke hat zu viel damit zu tun, lange Dialogpassagen mit Talking Heads abzuarbeiten. Es sind die visuell langweiligsten Passagen des Buchs. In den visuell aufregendsten Abschnitten verlässt Malottke das konkrete Bild, um beispielsweise Musik bzw. Lärm oder zeitliche Abläufe abseits der Chronologie des Gezeigten zu visualisieren.

Dennoch ist die Endzeitstimmung in jedem Panel zum Greifen nah und die Geistererscheinungen sind grandios in einem Spannungsfeld zwischen Faszination und Entsetzen in Szene gesetzt. Die Menschen sind stets trefflich charakterisiert, und vor allem die Farben geben einen guten Eindruck von Umgebung und den Umständen. Auch wenn die Schauplätze größtenteils zwischen Einöde und technischer Umgebung wechseln, verliert man doch zu keiner Stelle die Zuversicht, dass Jurek Malottke nicht ebenso gut auch Natur und Idylle zeichnen könnte. Der versöhnliche Abschluss der Geschichte vermittelt dahingehend einen lebhaften Eindruck.

Die Lektüre von Phantasmen hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck, da die Geschichte das Gefühl vermittelt, als wäre der Menschheit am besten gedient, wenn sie sich „gesundschrumpft“. Gleichzeitig befindet sich Meyer hier natürlich in bester Gesellschaft, denn berühmte Vorlagen wie George Romeros Day of the Dead oder Stephen Kings The Stand haben diese Idee ja längst auf den Weg gebracht. Die kühle Perfektion von Malottkes Grafik schmälert dieser Kritikpunkt kaum. Phantasmen ist, um noch mal Stephen King zu paraphrasieren, das literarische Äquivalent zu einem Big Mac. Jurek Malottke hat daraus das Comic-Äquivalent zu einem FantasyFilmFest-Feature geschaffen, das Genrefans lieben werden.

Ein Seherlebnis

7von10Phantasmen
Splitter, 2022
Text: Kai Meyer
Zeichnungen: Jurek Malottke
240 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 35,00 Euro
ISBN: 978-3967922141
Leseprobe

Auf Instagram finden sich sehr sehenswerte Dokumentationen zum Entstehungsprozess des Comics: Jurek Malottke (@metagrundierung) • Instagram-Fotos und -Videos

 

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