Niklas stellt uns im heutigen Währenddessen das aktuelle Buch von Judith und Christian Vogt vor.
Niklas: Berlin, 1927. Wer mal Geschichtsunterricht hatte, kennt das Szenario: Nazis auf den Vormarsch, die Künste florieren und jeden Tag definiert sich die Wissenschaft neu. Die Physikerin Nike trägt ihren Teil dazu bei, als sie bei einer Vorführung die Existenz von Magie nachweisen kann. Dazu bedarf es einer Mischung aus Kunst und Wissenschaft. Es ist eine bahnbrechende Entdeckung, mit der die Welt aus den Fugen gehoben werden könnte. Tja und dann wird jemand ermordet.
Anarchie Déco, der neue Roman des Autor*innenduos Judith und Christian Vogt, beginnt als klassischer Krimi, mit einer Leiche und einer mysteriösen Mordwaffe. Ich würde allerdings nicht sagen, dass diese Handlung im Vordergrund steht. Vielmehr ist es das Zusammenspiel zwischen Nike, die jetzt als magische Beraterin für die Berliner Polizei arbeitet, ihren Mitermittlern und dem Rest der schillernden Bevölkerung Berlins. Denn wie auch in Jason Lutes Comicreihe Berlin sind die Bewohner der Hauptstadt die Stars der Geschichte, mit all ihren Milieus, ihren Lieben und ihrem Hass, den sie in dunklen Gassen hegen und pflegen. Nicht nur die Nazis kochen hier ihr eigenes Süppchen, auch Anarchisten, zu denen auch Nikes Kollege Sandor gehört, wollen ihren Teil dazu beitragen, mit der Magie die Welt zu verändern. Dabei thematisiert der Roman die ungleiche Verteilung von Chancen in der Berufswelt, Zugang zu Ressourcen und lebensnotwendigen Dingen wie zum Beispiel Wohnraum.
Nike selbst ist eine wunderbare Ansammlung von Komplexen. Geprägt von ihrer ägyptischen Mutter, die von ihrem deutschen Rabenvater alleine gelassen wurde und sich als Frau im sexistischen Universitätsbetrieb durchschlägt, ist Nike nicht nur über ihre sexuelle Identität unsicher, sondern auch sehr stur und zeigt gerne wie ein Igel ihre Stacheln, wo sie sich doch eigentlich nach Wärme sehnt. Das ergibt in Summe eine komplexe Hauptfigur, die einen genauso oft enerviert, wie man sie in die Arme nehmen möchte. Das Gleiche trifft auch auf den zweiten Hauptcharakter Sandor zu, der eher halbherzig seinen anarchistischen Idealen einer besseren Welt folgt und dabei mit seiner Männlichkeit zu kämpfen hat. Die Streitereien zwischen ihm und Nike gehören zu den Highlights des Romans. Gerade weil sie nicht immer sympathisch sind, sind sie mir auch die liebsten Protagonist*innen aus der Feder der Vögte. Überhaupt ist Anarchie Deco bisher ihr bestes Buch, weil auf jede Seite zu spüren ist, wie viel Herzblut in die Themen und das magische System flossen.
Mein einziger Kritikpunkt sind tatsächlich die Antagonisten. Die bleiben weitgehend blass und eindimensional. Nachdem die Hauptfiguren so viele Ecken und Kanten zeigen ist es schade, dass die Gegenspieler*innnen nicht halb so greifbar wie sie sind.
Anarchie Déco ist als physisches Buch und als Ebook zu erwerben. Vor kurzem kam auch das Hörbuch raus, das ich allerdings nicht gelesen habe. Wer sich für starke Hauptfiguren, die 1920er und Berlin interessiert, kann auf jeden Fall zugreifen.