In der Kolumne „Währenddessen …“ zeigt die Comicgate-Redaktion, was sie sich diese Woche so zu Gemüte geführt hat.
Christian: Spike Lees Film 25 Stunden (The 25th Hour) ist einer der wenigen unverzichtbaren Filme, die mir besonders viel bedeuten. Mit mir über inszenatorische Schwächen oder Längen des Films diskutieren zu wollen, ist sinnlos.
Nach 18 Jahren habe ich mich jetzt auch an David Benioffs Romanvorlage gewagt. Obwohl sich durchaus die Binsenweisheit bestätigt, dass gerade aus durchschnittlichen Romanen die besten Filme gedreht werden, bietet das Buch interessante Ergänzungen und einige interessante Verschiebungen. Endlich erfährt man, warum Monty Brogan, der Drogendealer, der 7 Jahre im Gefängnis Otisville vor sich hat, sich überhaupt frei in der Stadt bewegen darf und nicht in U-Haft sitzt. Sein Vater hat sein Lokal als Kautionspfand hinterlegt. Auch erfährt man, wie der linkische Lehrer Jakob Ellinsky zum Freund der ultracoolen irischen Außenseiter Slattery und Monty werden konnte, mit denen ihn doch von Auftreten und Herkunft so absolut gar nichts verbindet.
Der Roman spannt innerhalb seiner gerade mal 200 Seiten, die sich flott weg lesen, einen großen Bogen an Figuren auf, die alle ihre wichtigen Szenen, teils auch Rückblenden und Biografien erhalten. Auch wenn Benioff vor allem für seine Filmarbeiten bekannt ist (Drehbücher unter anderem zu 25th Hour, Troja, Drachenläufer, X-Men: Wolverine und Game of Thrones) merkt man, dass 25th Hour nicht von vorneherein als Film konzipiert war. Dazu ist der Roman mit seinen unzähligen Nebenfiguren viel zu ausgefranst. Viel eher merkt man dem Roman an, dass Benioff viel persönlich Erlebtes und persönlich Empfundenes in das Buch gesteckt hat. Vielleicht alles, was er zum damaligen Zeitpunkt aufbieten konnte. Es ist ein sehr cleverer, dichter Roman.
Die erste große Leistung der Verfilmung ist es, wie eine kurze, gar nicht sonderlich handlungsrelevante Nebenszene des Buchs zu einem essenziellen, mehr als fünf Minuten einnehmenden Charaktermoment zugespitzt wird. Montys innerer Monolog vor einem Spiegel, in dem er seinen Hass auf New York auskotzt und sich danach sehnt, dass New York in Erdbeben und Flamme untergeht, wird erst im Film zu dem apokalyptischen Gebet, das auch nach mehrmaligem Ansehen nicht an Wirkung verliert und zu einem der großen Momente des Kinos des 21. Jahrhunderts zählen darf.
Gleichzeitig greift in dieser Schlüsselszene der zweite große Coup des Drehbuchs, die Bezugnahme auf 9/11. Während im Buch die bedrückende Handlung während des schlimmsten Schneesturms des Jahres spielt, hat sich im Film eine ganz andere Dimension von allumfassender Düsternis über die Welt gelegt. Die Handlung spielt nur wenige Monate nach dem Einsturz der Twin-Towers, so dass Monty eben nicht nur Grund hat, New York zu hassen, sondern ebenso „Osama bin Laden und […] seine dem Mittelalter entsprungenen, fundamentalistischen Wichser auf der ganzen Welt“. Monty weiß gar nicht mehr, wohin mit seinem Hass. Einerseits richtet er seinen Hass eben gegen den Aggressor von außen, der seine vertraute Welt zerstört hat, gleichzeitig hat er selbst sein Leben zerstört, ohne dass es einen Terroristen dazu gebraucht hätte. Der Zusammenbruch ist wirklich total, der Wunsch nach der Flutwelle im Film weit nachvollziehbarer als im Buch.
Während es im Buch nur eine Randnotiz ist, dass Monty sich die große reinigende Katastrophe wünscht, ist es im Film das große Leitmotiv, grandios gespiegelt dann noch mal am Ende, in dem eine weitere große Sequenz einen Ausweg anbietet, ohne in irgendeiner Form kitschig zu sein. Es ist eines der großen Filmerlebnisse unserer Zeit, ansehen zu dürfen, wie sich in 25th Hour Leben und Hoffnung durchsetzt, nicht nur für Monty (Idealbesetzung Edward Norton), sondern auch für seinen Kumpel Ellinsky, dem die beste Szene gehört (was anderes war vom großartigen Philip Seymour Hoffman auch nicht zu erwarten).
Wie nebenbei enthält 25th Hour auch noch eine der ganz großen Disko-Filmsequenzen (Spike Lee hat aber bereits in Summer of Sam bewiesen, dass er Disko gut kann). Es ist einfach erstaunlich: Jede wichtige Figur erhält ihre eigene Story. Ganz wie im Buch wird alles auserzählt, aber auf eine verdichtete, konzentrierte Form optimiert und doch auf eine Art und Weise, dass die Handlung atmen und wirken kann. Das Drehbuch ist eine Meisterleistung.
Wenn ich mir demnächst in einem großen Binge-Run Game of Thrones komplett ansehen werde, von dem ich bisher nur die erste Staffel kenne, dann mache ich das in erster Linie, um zu sehen, wie David Benioff das Ende hinbekommen hat. Ich habe keine Zweifel daran, dass dieser überaus begabte Autor eine gute Arbeit abgeliefert hat. Es wird spannend sein, herauszufinden, wo George R.R.Martins Vision endet und Benioffs Handschrift unübersehbar wird.
Niklas: In dieser Woche ist es schon wieder vier Jahre her, dass Umberto Eco starb. Deswegen habe ich mir ein paar Gedanken zu seinem ersten Roman, Der Name der Rose, gemacht. Ich habe nie die Verfilmung mit Sean Connery gesehen, finde es aber auch so erstaunlich, dass das Buch so erfolgreich war. Die Krimihandlung ist nämlich nur Nebensache und die Morde in einem Kloster sind nur dazu da, um die Hauptfiguren Adson von Melk und William von Baskerville schnell und logisch in die Handlung zu involvieren. Der Roman dreht sich in Wirklichkeit um akademisches Wissen und wer das Recht besitzt es zu lernen und zu verwenden.
Liest man den Namen der Rose als Krimi, ist es ein solider bis sehr guter Roman. Die Kulisse, das abgelegene Kloster auf einem Berg, ist spannend, die Charaktere lebhaft geschrieben und das alles liest sich trotz vieler Fremdwörter sehr flüssig. Als Diskussion über die Deutungshoheit und Bedeutung von Texten wird der Roman aber erst richtig gut. Denn die Kirche hat trotz all ihrer Fehler Europa wahrscheinlich mehr geprägt als jede andere Organisation. Kloster waren Horte des Wissens, selbst wenn religiöse Schriften im heutigen Kontext mehr historischen als praktischen Wert besitzen. Damals bauten sich aber alle wichtigen wissenschaftlichen Disziplinen immer noch um die Frage auf, wie der Mensch am besten in den Himmel kam. Niemand war sich sicher, wie das ging, aber da es nur eine Wahrheit gab, musste es wohl auch nur einen Weg geben. Umso ironischer, dass die Kirche nach außen hin so tat, eine geschlossene Einheit zu sein, sich aber eigentliche in mehrere Strömungen und Orden aufteilte, die alle unterschiedliche Interpretationen der beiden Testamente vertraten. Anstatt diese Interpretationen aber als diskutable Möglichkeiten zu verstehen, wird im Roman verbissen um die Dominanz der eigenen Wahrheit gekämpft. Wenn dann auch noch die mittelalterliche Politik des Adels dazu kommt, wird die Suche nach dem Weg zur Erlösung irgendwann komplett zweitrangig, da es am Ende nur noch darum geht, die Gunst der weltlichen Herrscher zu erringen. William von Baskerville erscheint deswegen auch so sympathisch, da er vorrangig an Wissen um des Wissens Willen interessiert ist. Er ist ein wahrer Intellektueller und aufgeklärter Zyniker, der bereits zu viel von der Welt gesehen hat, um sie nur in Schwarz und Weiß einzuteilen. Trotzdem sieht er den Fortschritt und die Wissenschaft als erstrebenswert an und denkt, dass ein kritischer Geist ein gottgefälliger ist.
Der Name der Rose ist thematisch so aktuell wie vor vierzig Jahren. Zwischen all den Halbwahrheiten und aberwitzigen Ideen mancher Leute die Wahrheit zu finden, ist heute schwerer denn je und sich den Mächtigen zu beugen ist ebenfalls viel zu einfach. Obwohl die Handlung sehr düster erzählt wird, bleibt weiterhin die Hoffnung, dass auch wir irgendwann das Licht der Wahrheit sehen werden. Wir können nur weiterforschen, diskutieren, interpretieren und hoffen, eines Tages der Wahrheit immer näher zu kommen.
Wem das Buch nicht interessiert, der kann sich immer noch die neue Miniserie anschauen, die letztes Jahr erschien:
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