Ich kannte weder den Autor, Marcello Quintanilha, noch wusste ich, was der Titel bedeuten sollte. Nach der Lektüre weiß ich über diese beiden Dinge immer noch wenig, aber ich habe einen verdammt guten Comic gelesen.
Weil die Haupthandlung an diesem Comic nur Nebensache ist, können wir dies schnell abhandelt: Zwei Vollidioten (so kann man das wohl sagen) fischen an der Küste von Salador de Bahia anstatt mit Angeln oder Netzen lieber mit Dymamit. Der Lärm ruft Schaulustige auf den Plan, den verrenteten Armeekommandanten Seu Ney und seinen jungen Begleiter Marcos, die nach kurzer Diskussion Richard, einen Polizisten, anrufen, damit er sie festnehme. Und nun? Richard kommt vorbei, prügelt sich mit beiden und verhaftet sie. Ende. Kein großes Ereignis.
Dieser Comic widmet sich nichts weniger als dem Spektakel: Hier ist nichts gewaltig, keine Figur heldenhaft, kein Verbrechen ungeheuerlich. Es ist eine Chronik des Alltäglichen (vor für uns traumhafter Kulisse), die sich erst in den Lebensläufen der einzelnen Figuren allmählich entfaltet und ganz und gar nicht langweilig ist. Alle Beteiligten erscheinen uns anfangs sehr fremd, aber nur die beiden Sprengstofffischer werden uns unbekannt bleiben. Tatsächlich geht es um das Beobachterpärchen, Seu Ney und Marcos, den Polizisten Richard und dessen Frau Keira. Es geht um viele kleine Verbrechen, die Kriminalfälle des Alltags.
Seu Ney ist ein redseliger alter Armeebestand, der den jungen Marcos mit Lebensweisheiten und Ratschlägen überhäuft. So etwa dem ‚Rat‘, lieber keine Drogen mehr auf der Straße zu verkaufen, was er ihm nicht während eines ruhigen Spaziergangs erläutert, sondern in einem Handgemenge, in dessen Verlauf der Leser sich zunächst fragen muss, ob hier ein wahnsinniger Gewalttäter am Werk ist. Aber Seu Ney ist nicht verrückter als alle anderen: Seine Motivation, sich des Jungen anzunehmen, ist eigentlich viel herzlicher, denn er ist mit dessen Mutter zusammen (freilich ohne Marcos‘ Wissen) und möchte den ‚Stiefsohn‘ etwas besser kennenlernen. Marcos hingegen ist ein schwieriger Fall: Taschendieb, Taugenichts und Drogenhändler, aber auch hierin verurteilt der Comic ihn nicht und zeigt ihn aus verschiedenen Perspektiven. Der leicht übergewichtige Polizist Richard ist auch kein strahlender Held. In beruflicher Hinsicht hat er sich gut bewährt, wohingegen sein Privatleben wenig Anlass zur Bewunderung gibt: Handgreiflichkeiten mit seiner Frau, Keira, und seine ständige Untreue relativieren rasch das positive Bild, das der Leser sich zunächst vom pflichtversessenen Richard gemacht hat. Es gibt hier keinen einzelnen Protagonisten, der die Handlung vorantreibt, nur Ereignisse, die ineinandergreifen. Keine Helden, die Schurken bekämpfen, nur Menschen, die so geworden sind, wie sie sind (bis auf die Fischer).
Tungstênio wurde 2016 auf dem Comicfestival von Angoulême als bester Krimi ausgezeichnet, und es ist tatsächlich spannend, mehr über diese Figuren zu erfahren, über deren kleine Vergehen und Versäumnisse. Übrigens ist Tungstênio, so ein kurzer Hinweis im Impressum, der portugiesische Begriff für das Schwermetall Wolfram, das unter anderem für Glühbirnen verwendet werde. Wie dies aber mit der Handlung zusammenhängt, muss ich gestehen, bleibt mir verschlossen.
Spannend ist die kataphorische Darstellungsweise Quintanilhas: Er montiert Bilder in den Erzählverlauf, die der Leser noch gar nicht verstehen kann, weil es Vorausgriffe auf spätere Handlungen sind: So sehen wir Richard, der einem Bus hinterhereilt, obwohl wir erst viel später erfahren, dass in diesem Bus seine Ehefrau sitzt, die ihn zuvor mit einer anderen Frau erwischt hat. Und auch der kleine Kunstgriff, die ersten Ereignisse aus drei Perspektiven hintereinander zu erzählen, ist ein gut gewähltes Mittel, um darauf hinzuweisen, dass man jede Person und jedes Ereignis mit seiner Vorgeschichte betrachten sollte. Es ist passend, dass der Comic nicht ungetrübt glücklich oder traurig endet, sondern so gemischt wie der Alltag dies halt ist.
Eine wunderschöne Chronik des Alltäglichen
Avant, 2017
Text und Zeichnungen: Marcello Quintanhila
Übersetzung: Lea Hübner
182 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 24,95 Euro
ISBN: 978-3945034545
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