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Meine freie deutsche Jugend

Comics über die DDR handeln oft von von Kindern. Das war in Mawils Kinderland ebenso wie in Ulla Loges Da wird sich nie was ändern. Auch Meine freie deutsche Jugend, die neue Comic-Erzählung von Thomas Henseler und Susanne Buddenberg, basierend auf dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Claudia Rusch, zeigt uns die DDR aus der Perspektive von Kinderaugen.

Alle Abbildungen © Ch. Links Verlag

Die Kindersicht stellt die Welt auf den Kopf, denn mit den Augen von Kindern gesehen sind es die Erwachsenen, die seltsame Spielchen spielen, was die Welt der Kinder wie das vernünftigere Korrektiv erscheinen lässt. Dass die Welt der Erwachsenen aber nicht nur seltsam und absurd scheint, sondern bisweilen tödlich sein kann, das verstehen Kinder natürlich nur eingeschränkt, und so nimmt die kleine Claudia, die Heldin dieses Comics, die in ihrer Straße präsenten Stasi-Wachtposten auch als „nicht wirklich bedrohlich“ wahr, sondern findet sie „beruhigend“. Claudias Mutter, die rund um die Uhr von der Stasi beobachtet wird, da sie mit dem Dissidenten Robert Havemann befreundet ist, sieht das etwas anders.

Die kindliche Unbedarftheit erhält einen ersten Riss, als Claudia in Selbstvergessenheit einem Volkspolizisten, der sie freundlich behandelt, einen Honecker-Witz erzählt. Mit einem Mal fallen die Erwachsenen samtens aus der Rolle: Die Mutter verpasst dem Kind aus heiterem Himmel einen gehörigen Anschiss, während Töchterchen doch gar nicht weiß, was sie eigentlich falsch gemacht hat, aber auch der Polizist versucht zu verdrängen, welche Rolle ihm denn eigentlich in dieser Situaion zugewiesen ist. Mit einem Mal sind sie da, die unsichtbaren Mauern in den Köpfen, die ja nicht nur gedacht sind, sondern höchst alltagswirksam und mit gefährlicher Konsequenz das Leben aller durchdringen.

Wahrscheinlich hat Claudia ja nie einen Sartre-Pullover getragen oder Hamlet-Hauptrolle gespielt. Aber weiß man’s?

Meine freie deutsche Jugend zeigt, wie sehr das künstlerische Repertoir des Künstlerpaars gegenüber ihrer früheren Comicerzählungen gereift ist. Gerade die Kinderdarstellungen sind deutlich cartooniger als bisherige Arbeiten und erinnern in ihrer Niedlichkeit an klassische Kindercomics wie Der kleine Nick. In Sachen Bildsprache bleiben Henseler und Buddenberg ihrem bisherigen Stil weitgehend treu. Es wird viel mit erklärenden inneren Monologen gearbeitet, gleichzeitig werden Inhalte durch die Wahl von mehr oder weniger treffenden visuellen Zuspitzungen prägnant verkürzt, ganz im Sinn von Will Eisner, zu dessen Werkzeugen ja ebenso die Karrikatur und die Arbeit mit Vorurteilen und vorherrschenden Prägungen gehörte, um mit wenigen Linien eine Stimmung auf den Punkt bringen zu können. Auch Horst Haitzinger war ein Meister dieser Form.

So wird Claudias Teilnahme an einem Philosophiekreis zu einem ausdruckstarken Einzelpanel verkürzt, das sie im schwarzen Existenzialisten-Pullover zeigt, ebenso ihr Interesse an Theater auf ein Bildchen mit Claudia als Hamlet im ikonischen Sein-oder-Nichtsein-Monolog. Ihre Begeisterung für Mathematik wird betont, indem sie, sehr Scott McCloudesk, Kurvendiagramme hoch- und runterrutscht. Aber auch in dramatischen, bedrohlichen Szenen kommen solche Elemente zum Einsatz, so während eines von ihrem Lehrer vollzogenen Schautribunals im Klassenzimmer, als dieser Claudia konterrevolutionäre Ansichten unterstellt. Mit einem Mal verwandelnd sich sämtliche Anwesende in anonyme Figuren mit Ku-Klux-Klan-Masken, während vor Claudias geistigem Auge ein Galgenstrick hängt. Diese Art der verkürzten Darstellung kann leicht zur Sackgasse des grafischen Erzählens werden, weil cartoonhafte Zuspitzung stets mit Reduktion und Verzerrung einhergeht und vorherrschende Klischees bedient. Andererseits gelingen Henseler und Buddenberg mit diesem und anderen Stilmitteln viele schöne Einzelszenen.

Erwähnenswert ist auch die nuancierte Darstellung einer unmöglichen Liebesgeschichte zwischen Claudia und einem französischen Bildungsreisenden, vor allem in einer berührenden Abschiedsszene, die gänzlich ohne Text auskommt. Es ist die schönste Seite des Buchs. Man erkennt den Taniguchi-Einfluss, den Thomas Henseler einmal in einem Interview genannt hat. Es könnte auch durch Jason Lutes inspiriert sein.

Manche Szenen benötigen keine Worte.

In Meine freie deutsche Jugend wird die Lebensgeschichte von Claudia gleich zwei Mal erzählt. Einmal, im Prolog, bekommen wir die Geschichte aus der Vogelperspektive. Wie von weit weg erfahren wir, weitgehend frei von persönlichen Dramen, wie sich äußere Rahmenbedingungen im Laufe der Zeit ändern und Claudia nach der Wende auf einmal nach Schweden reisen darf, wovon sie als Kind nur träumen konnte. Beim zweiten Durchlauf wird dann von der Zeitrafferperspektive abgerückt und auf die einzelnen Wegmarken ihres Lebens gezoomt, so dass man erfährt, was es wirklich bedeutet, in den Strukturen der DDR zu leben. Aber auch, wenn die Geschichte durchaus in die Tiefen der persönlichen Einzelschicksale vordringt, irgendwie besteht doch Sehnsucht nach noch einem weiteren Zoom, der wirklich in die Mikroperspektive eindringt, so dass Stimmungen und Haltungen nicht mit ein paar erklärenden Sätzen abgehandelt werden, sondern nach den Regeln einer Soap Opera weit ausgebreitet werden.

Kein Zweifel: Thomas Henseler und Susanne Buddenberg haben alles richtig gemacht und ihr Repertoir gut ausgeschöpft, um aus Meine freie deutsche Jugend eine kurzweilige und kluge Graphic Novel zu machen. Und doch gibt es Episoden, die Stoff für eine eigene Miniserie bieten würden. Unterm Strich bleibt die Graphic Novel doch ein Aufriss. Was jetzt noch fehlt, ist die Comicserie.

Kluge und kurzweilige Literaturadaption über eine Kindheit in der DDR

9von10Meine freie deutsche Jugend
Ch. Links Verlag, 2020
Text und Zeichnungen: Thomas Henseler und Susanne Buddenberg
144 Seiten, schwarz-weiß mit Farbe, kartoniert
Preis: 18,oo Euro
ISBN: 978-3962890834

 

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