Verziegelt: Egmont bringt Tsutomu Niheis SF-Epos Biomega im unhandlichen Backsteinziegelformat in die sich biegenden Regale der Buchhandlungen.
Ein Mann. Ein Motorrad. Eine große Wumme. Ein postapokalyptisches Cyberpunk-Szenario: Die Menschheit wurde von einem Virus, N5S, in Zombies verwandelt, und Zoichi Kanoe (Mann mit Motorrad und Wumme) ist von TOA Schwerindustrie beauftragt worden, gegen das Virus immune Menschen zu finden. Zoichi ist ein synthetischer Mensch, und sein Weggefährte auf den 1.228 Seiten ist die in sein Motorrad implementierte Künstliche Intelligenz Fuyu Kanoe.
Natürlich tritt eine konkurrierende Institution auf den Plan, die DRF (Data Recovery Foundation), die Zoichi das Leben schwer machen möchte. So weit, so gut. Und dann explodiert die Handlung dermaßen, dass einem schwindelig wird. Ein sprechender Bär. Künstliche Welten. Rasante Schauplatzwechsel. Neue Figuren, immer wieder neue Figuren. Tsutomu Nihei erzählt chaotischer als in seinem Mammutwerk Blame! (1998–2003), und viel ausführlicher als in Abara (2005–06) – beides macht die Lektüre nicht einfacher. Ganz im Gegenteil.
Nihei erschafft seine zukünftig-dystopischen Universen stets vornehmlich in Bildern, weniger mit Worten. Dies macht die Geschichten enigmatischer, die Welten fremder, die Personen weniger zugänglich, weil dem Verständnis dienliche Informationen konsequent verweigert werden: Wer ist das eigentlich? Worin besteht dessen Auftrag? Und ist dies überhaupt ein Mensch? Der Leser fremdelt notwendigerweise mit einer Welt, die fremder kaum sein könnte.
Die Architekturvisionen des ehemaligen Architekten und erfolgreichen Comic-Künstlers Tsutomu Nihei sind an die japanische Tradition des Metabolismus angelehnt. Die urbanen Megastrukturen, die Kisho Kurokawa und gleichgesinnte Architekten seit den 1960er Jahren entwarfen, orientierten sich an der Natur, sind zugleich aber auch ökologische Visionen. Davon sind die dystopischen Strukturen, die Nihei in Blame!, Abara und Biomega anlegt, denkbar weit entfernt. Die „Städte“ sind eigentlich gar keine, weil die wuchernden Strukturen keine rurale Gegenwelt zulassen, sondern vielmehr eine omnipräsente, künstliche Umwelt darstellen: „Die Struktur“ ist überall, sie ist totalitär, sie hat keinen Schöpfer – und erscheint trotz ihres allmählichen Verfalls als überzeitlich.
Wollten die japanischen Metabolisten Gebäude schaffen, denen etwas Natürliches anhaftet, treibt Nihei dies auf die Spitze, indem er Architektur und Natur miteinander zu einer wuchernden und zugleich verfallenden Umgebung verschmelzen lässt: Die Städte funktionieren nicht wie ein Metabolismus, sie sind einer. Und daraus erwächst ein urbaner Alptraum für die beteiligten Figuren, aus dem man als Leser erst nach 1.228 Seiten wieder aufwacht.
Bei architekturaffinen Comics kommt man nicht um die frankobelgischen Alben von Frederic Schuiten und Benoît Peeters herum. Sie schufen mit der Reihe „Die geheimnisvollen Städte“ (1983–2016) eine rätselhafte Welt, deren antikisierende oder ins Mittelalter zurückreichende Ruinen im Mittelpunkt der Erzählungen stehen. Sind Schuitens und Peeters‘ Visionen dabei aber stark an der europäischen Kunstgeschichte orientiert, blickt Nihei mit seinen transhumanen (transnaturalen, transarchitekturalen) Settings eher in eine düstere und totalitäre Zukunft. Nicht nur die Architektur steht an der Schwelle zwischen Kunst und Natur, ebenso die handelnden Figuren, die bei Nihei meist technologisch oder biologisch modifizierte Hybridwesen sind: Wer Ordnung und Klarheit sucht, wird diese in Biomega nicht finden. Weder in den rauhen Schwarz-Weiß-Zeichnungen, in der wilden und temporeichen Seitengestaltung, noch in der gezeichneten Welt.
Vielleicht ist es ein ironischer Schachzug vom Egmont Verlag, den ursprünglich in sechs Bänden (2004–09) veröffentlichten Cyberpunk-Manga im Format eines unhandlichen Ziegelsteins auf den Markt zu bringen. Mit Ziegelsteinen baut man immerhin Häuser, aber ein handliches Lektüreerlebnis sollte man angesichts der 1,7 Kilogramm Lesewucht nicht erwarten. Die sechsbändige Master Edition von Blame! bei Cross Cult, dessen Prequel demnächst erscheinen wird, kommt etwas luxuriöser daher als Egmonts Luxury Edition.
Tsutomu Niheis düstere Welten faszinieren visuell wie konzeptuell: Sowohl in Blame! als auch in Abara und Knights of Sidonia schickt er seine Helden an die Grenzen des Menschlichen und weit darüber hinaus. Dass er dabei auch die Grenzen des erzählerisch Möglichen überschreitet, macht die Lektüre zu einem Abenteuer, das man mit Freude oder Frust bestehen kann. In Biomega fällt es Nihei schwer, die vielen Fäden in der Hand zu behalten, und mich hat er bei seiner Reise durch seine Welt letztlich doch verloren. Zu viele Haken schlägt seine Erzählung.
Schuiten und Peeters haben 1997 den Führer durch die geheimnisvollen Städte herausgegeben. Vielleicht braucht Nihei auch einen Führer durch seine dystopischen Stadtalpträume.
Verziegelt.
Egmont Manga, 2018
Text und Zeichnungen: Tsutomu Nihei
Übersetzung: Constantin Caspary
1228 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 35,00 Euro
ISBN: 978-3770456604