Lemire und Sorrentio haben sich in kurzer Zeit als Dynamisches Duo etabliert: Deren Horror-Serie Gideon Falls hat die Kritiker begeistert, ihre gemeinsame Joker: Smile-Serie und Primordial haben eher enttäuscht. Wo ordnet sich Zehntausend schwarze Federn ein?
Die beiden Jugendfreundinnen Trish und Jackie lernen sich durch ihre gemeinsame Leidenschaft für die fantastischen Welten der Literatur näher kennen. Ihrer beider Herzen schlagen für abenteuerreiche Fantasy-Literatur, und angesichts ihrer schwierigen Familienbiographien flüchten sie sich in die aufregenden Welten der Heldinnen, die sie bewundern.
Diese Fiktionen könnten kaum ein größerer Kontrast zu ihrem Alltag sein. Zu dem tristen Keller, in den sie sich in der Wirklichkeit zurückziehen, und den dysfunktionalen Elternhäusern, in denen sie mehr leiden als leben. Trishs trinkfreudige Mutter knüpft gern neue Kurzzeitbeziehungen, während Jackie in einer Pflegefamilie lebt und ihre biologischen Eltern gar nicht kennt. Lemire-Fans werden Parallelen zu den diversen Geschichte über abwesende Väter entdecken.
Wir folgen den beiden in ihre Fantasiewelten und erleben deren Abenteuer, als würden sie tatsächlich geschehen. Man wirft manchen Medien, ganz früher der Literatur, dann dem Fernsehen und später Computerspielen, gern vor, sie würden die Leser:innen, Zuschauer:innen und Spieler:innen zum Eskapismus verführen, zur Flucht aus der Wirklichkeit. Blöd nur, wenn diese Flucht attraktiver ist als das Leben selbst. So ist es hier.
Die beiden Mädchen haben sich gut in ihrem Außenseitertum eingerichtet, zwischen Frank Herbert, Lovecraft, Cixin Liu und Stephen King. Aber wir kennen das alle, irgendwann wird man erwachsen, und als Trish allmählich erste Adolsezenzerfahrungen macht, Drogen und Sex, verlieren die beiden einander. Die Fantasiewelt der Kindheit bröckelt – und sie zerbricht jäh, als Jackie nach einer Party verschwindet. Sie wird vermisst gemeldet und schließlich nach Monaten für tot erklärt.
Jahre später kehr Trish als erfolgreiche Fantasy-Autorin zurück in ihren Heimatort, trifft Jackies Mutter wieder, die nun vollends dem Alkohol verloren ist (wer will es ihr verdenken …), und sie trifft auch Casey, der als Tatverdächtiger galt, weil der damals 25-jährige mit der jüngeren Jackie an dem Abend ihres Verschwindens geflirtet hatte. Aber nun gerät auch Trish plötzlich in den Fokus der Polizei – dass Sie Jackie damals ihre Liebe gestanden hatte, erzählte sie der Polizei nämlich nicht.
Soweit, so realistisch, und eher der Stoff für eine Kriminal- als für eine Fantasygeschichte, aber das Setting verändert sich, als Trish ein verstecktes Loch im Keller entdeckt, einen Zugang zu einer Parallelwelt, in der sie auch Jackie wiederfindet. Aber auch Corvus, eine fantastische und bedrohliche Krähengestalt, von Jackie und Terry erfunden, lauert dort. Daher die Federn.
Der kanadische Vielschreiber Jeff Lemire und der italienische Zeichner Andrea Sorrentino hatten schon an Green Arrow (2011) zusammengearbeitet, dann an Joker: Killer Smile (2020, dt. Panini), der Cold-War-Story Primordial (2021–22, dt. Splitter) und der mit einem Eisner-Award prämierten Horrorserie Gideon Falls (2018-20, dt. bei Splitter). Seit Ende 2021 arbeiten Lemire und Sorrentino gemeinsam für Image Comics an der Horrorserie The Bone Orchard Mythos, bestehend aus mehreren voneinander unabhängigen Geschichten. Im Juni 2022 erschien Die Passage (Splitter), dann Zehntausend schwarze Federn in fünf Ausgaben zwischen September 2022 und Januar 2023 (Splitter). Gerade abgeschlossen ist die Fortsetzung Tenement in zehn Ausgaben zwischen Januar 2023 und März 2024, im September unter dem Titel Das Mietshaus angekündigt. Im Herbst 2024 soll in den USA Starseed erscheinen. Das ist das typische Lemire-Tempo, das wir von seiner Arbeit an Black Hammer kennen. Manches Mal hat das den Storys nicht gutgetan.
Die Handlung von Zehntausend schwarze Federn ist von der Passage zunächst ganz unabhängig, es ist also nicht notwendig, die beiden Comics zusammen zu lesen. Nichtsdestotrotz stehen die Comics offensichtlich in enger Beziehung zueinander. Auch in Die Passage steht ein mysteriöses Loch im Zentrum, das allerdings nicht in die Ferne, sondern mitten und tief in die Erde hinein verläuft. Auch dort ist es ein Grenzraum zwischen der Welt der Lebenden und der Toten, dort mit reichlich antikisierndem Dekor und zugleich der Ort, an dem der Geologe Reed seine verstorbene Mutter wiedertrifft, hier eher in Fantasy-Manier. In Die Passage brauchen Lemire und Sorrentino nur ganz wenige Elemente, um eine Kammerspiel des Schreckens zu inszenieren. Ein einsiedlerisches Geschwisterpaar, ein verlassener Leuchtturm, ein Mann mit einer verborgenen Schuld. Und auch Zehntausend schwarze Federn kommt mit einem überschaubaren Personal aus.
Lemire und Sorrentino erzählen eine Geschichte über das Ende der Kindheit, über zerbrechliche Wirklichkeiten, deren Protagonisten viel bedrohlicher erscheinen als die dunklen Gestalten der Fiktion, über die Flucht aus Verhältnissen, die einem nicht mehr lebenswert erscheinen. Und dann ist da schließlich dieses Loch, von dem wir nicht genau wissen, wo es uns hinführt.
Es sind wie in Die Passage größtenteils bekannte Genre-Versatzstücke, die hier arrangiert werden, aber wiederum so interessant erzählt und visuell abwechslungsreich umgesetzt, dass die Geschichte dennoch sehr gut funktioniert. Auf die Fortsetzung im September darf man sich freuen.
Gruselroutine in großartiger Optik
Splitter Verlag, 2023
Text und Zeichnungen: Jeff Lemire, Andrea Sorrentino
Übersetzung: Bernd Kronsbein
168 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 29,80 Euro
ISBN: 978-3-98721-154-6
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