Wolkenbügel beginnt auf hoher See. Auf einem deutschen Schlachtschiff beschäftigen sich drei Männer mit Malen. Das Schiff nähert sich einem Minenfeld, das kompromisslos aus dem Weg geschossen wird. Doch dadurch wird ein Unterseemonster geweckt, welches das Schiff kurzerhand mit hunderten Tentakeln kentern lässt. Zwei der Männer können, kurioserweise durch ein Missgeschick, fliehen und machen sich auf nach Berlin.
Diese erste Szene ist gerade mal fünf Seiten lang. Aber sie illustriert schon sehr gut, was den Leser bei Wolkenbügel erwartet. Denn was Sebastian Strombach hier abgeliefert hat, ist ein wilder, wenn auch holpriger Ritt. In sechs Episoden zeigt er uns das Berlin der 1920er-Jahre: Ein magischer Ort, an dem alles zu gehen scheint, wo Feste gefeiert werden, wie sie fallen und wo sich Prominenz die Klinke in die Hand gibt. Das Scheinwerferlicht wirft Strombach hier vor allem auf Künstler wie George Grosz, Fritz Lang und Erich Mendelsohn. Und natürlich auch auf das russische Multitalent El Lissitzky, dessen Wolkenbügel-Projekt dem Comic seinen Titel gibt.
Wer den Namen Sebastian Strombach bisher noch nicht gehört hat, ist in der Comicszene nicht allein: Denn der Diplomingenieur aus Berlin liefert hiermit sein Erstlingswerk ab. Seine Interessen sind überdies Stadtführungen, er setzt sich mit Städtebau auseinander, baut hölzerne Installationen für Ausstellungen und spielt Theater. Er bedient also ein recht breites (künstlerisches) Œuvre, von dem auch viel in Wolkenbügel einfließt: Das Theaterspiel zeigt sich in einem guten Gespür für Körpersprache und den zielgerichteten Dialogen. Sein Interesse an Städtebau und das Studium der Architektur spiegelt sich in der Darstellung Berlins und der Konstruktion von aufwändigen Fassaden wider. Strombach ist in der Lage, überzeugende Settings zu gestalten und macht das Berlin der 1920er damit nahezu erlebbar.
Allerdings muss man auch feststellen, dass er (noch) kein wirklich guter Comic-Zeichner ist. Die Anatomie seiner Menschen wirkt teilweise dilettantisch. Außerdem schwankt die Qualität der einzelnen Kapitel stark: In manchen wirken die Zeichnungen sehr skizzenhaft und unfertig, während sie in anderen Abschnitten mehr Hingabe erfahren haben. Überdies fehlt häufig eine gewisse Ausgewogenheit in den Abbildungen: Wichtige Elemente befinden sich zu weit am Rand, andere Elemente überschneiden sich unglücklich, es gibt seltsame Tangentenbildung. Dynamik sucht man ebenfalls weitgehend vergebens.
Das alles sieht man aber häufig bei Comic-Erstlingen. Diese Missstände sind durch Übung weitgehend zu beheben, wenn der Künstler sich die Zeit dafür nimmt. Und Sebastian Strombach sollte das tun. Denn trotz der offensichtlichen Schwächen merkt man, dass er Comics mag und verstanden hat, welche Möglichkeiten ihm in dem Medium zur Verfügung stehen. So lässt er seine Episoden zu Wasser, in der Luft und unter der Erde geschehen. Er spielt mit Panelaufbau und Leserichtung, so dass man an einer Stelle das Buch sogar auf den Kopf drehen muss, um weiterlesen zu können. Und er benutzt überzeugende Soundwords.
Außerdem schreckt Strombach nicht davor zurück, skurrile Dinge passieren zu lassen. In einer Szene stürzt Leitfigur Cem, die dem Leser in allen Episoden begegnet, aus einem Luftschiff in das umkämpfte Berlin. Sie schlägt in ein Gebäude ein wie eine Bombe, um sie herum stürzt alles ein. Doch der Mann steht danach einfach auf, klopft sich den Staub ab und bemerkt lapidar: “Das ist also Berlin.” Später erscheinen Roboter und springen Architekten von Flugzeugen auf Heißluftballons. Strombach wirft mit wilden Ideen nur so um sich. Leider sind sie wegen der mittelmäßigen Zeichnungen häufig weniger beeindruckend, als sie sein könnten.
Das gilt leider auch für die “Geschichte”, die Strombach erzählt. Abgesehen von der immer wieder auftretenden Leitfigur gibt es kaum erzählerischen Kitt, der die Episoden zusammenhält. Es gibt keinen Handlungsbogen, keine emotionale Bindung zu Figuren, nicht mal zu Cem, der fast ausschließlich als Handlanger und Stichwortgeber herhalten muss. Strombach beschränkt sich darauf, die Künstler-Persönlichkeiten, ihre Visionen und das wilde Leben im Berlin der damaligen Zeit darzustellen. Das ist insofern nachvollziehbar, dass er sich offenbar nicht anmaßen will, den Menschen hinter dem jeweiligen Künstler zu erklären. Doch es ist auch schade, weil ich als Leser so keinerlei emotionale Bindung zu dem Geschehen aufbauen konnte.
Für den Jovis Verlag ist Wolkenbügel insofern etwas Besonderes, weil dort vor allem Sachbücher über Architektur aus aller Welt veröffentlicht werden. Da überrascht die Herausgabe eines Comics auf den ersten Blick. Doch weil die Architektur Berlins beziehungsweise das Zusammenspiel zwischen Architektur und den in den 1920ern in Berlin lebenden Künstlern eben keine geringe Rolle in der Geschichte spielt, erklärt sich die Aufnahme ins Verlagsprogramm. Es zeigt zudem, dass Comics als Erzählform eben auch in diesem Bereich angekommen sind. Und das ist, abseits der offensichtlichen Schwächen des Buches, eindeutig begrüßens- und lobenswert.
Die kreativen Ideen stehen bei dieser Sammlung von Episoden über das 1920er-Berlin deutlich im Vordergrund; Geschichte wie Zeichnungen sind noch sehr ausbaufähig.
Jovis Verlag, 2018
Text und Zeichnungen: Sebastian Strombach
88 Seiten, schwarzweiss, Softcover
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3-86859-545-1
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