Der Mann um die Dreissig ist einer, der stark verunsichert ist. So wie immer, wenn es daran geht eine Schwelle zu übertreten. Mit Dreißig ist das so, dann auch wieder mit Vierzig, Fünfzig und so weiter. Frauen brauchen keinen Mut. Nicht zur Bindung, Karriere, Heirat und schon gar nicht zur Mutterschaft. Sie entscheiden oder lassen die Umstände entscheiden. Natürlich geraten auch sie in Krisen und stehen Ängste aus, aber sie kämpfen oder mogeln (Make-Up!) sich da irgendwie durch und verzichten auf jeglichen heroischen Gestus.
Der Mann erfand den Mut, weil er im Grunde lebensmüde und -untüchtig ist. Die Ideengeschichte des Mannes, die sich, das darf man in diesem Zusammenhang ausnahmsweise erwähnen, mit der Ideengeschichte der Menschheit weitgehend deckt, ist ein einziges Aufbegehren gegen das Leben. Es bedarf ständiger Innovationen, Reorganisation und Größenphantasien um es zu ertragen. Der Mut also, dieses Gefühl der Größe und des Wahns, ist ein Destillat männlicher Psyche: wenn es schon unmöglich ist, dann aber mit Verve. Ob das nun sympathisch ist oder nicht, zumindest eignet es sich gut als Storytelling-Material. Vermeintlich.
In Hamed Eshrats Venustransit geht es um Ben, einem Mann um die Dreißig, dem die Freundin davonläuft, was ihn in eine tiefe Sinnkrise stürzt. Eine gute Kulisse für Sinnkrisen gibt im frühen 21. Jahrhundert die Stadt Berlin ab, in der die Geschichte praktischerweise angelegt ist. Wo sonst ließe sich die männliche und kreative Identität besser neu erfinden, als in der Stadt, die seit Jahrzehnten selbst im Begriff ist, sich neu zu erfinden? Dazu gehört auch das ambivalente Verhältnis seiner (einheimischen oder zugezogenen) Bewohner zu ihr: “Diese verfickte Stadt. Ich kann sie nicht mehr sehen”, zickt Ben zwischendurch mal rum. Zwischen den kleinen Multikulti-Momenten im Späti, Mauer-Tourismus, neue Lofts in Mitte und dem obligatorischen Berghain-Besuch hakt Eshrat fleissig alle Berlin-Klischees ab. Das ist mal charmant, dann nervt es auch wieder. „Berlin ist doch mehr als das!“, will man dem Autor zurufen. Dabei ist der Handlungsradius in Venustransit tatsächlich ziemlich nah am Alltag eines Berliners aus der, na sagen wir mal ganz weit gefasst: Tech-, Medien- und Kreativbranche, oder jedenfalls näher, als man sich das (als Neuberliner) eingestehen möchte.
Nietzsche, Marc Aurel, Goethes Faust, Camus’ Sysiphos… an geistigen Ratgebern und Zitaten fehlt es in Hamed Eshrats zweiter Veröffentlichung (nach Tipping Point – Téhéran 1979), die gleichzeitig sein deutsches Debüt ist, gewiss nicht. Das wiederum wirkt offensichtlich bemüht. Ganz so, als könnten berühmte Geistesgrößen auf die relativ schlichte Geschichte ein wenig Bedeutung abfärben. Vor allem die metaphorische Gleichsetzung zu Sisyphos wird immer wieder bemüht. „Ja, wir haben es verstanden, das Leben ist ein Kampf!“, möchte man dem Autor mitteilen. Was soll neu sein an dieser banalen Erkenntnis? Karl-Ove Knausgard hat uns in den letzten Jahren tausende Seiten seines alltäglichen Abmühens um die Ohren gehauen. In seinem Romanzyklus sind es die Details und die präzise und radikal ehrlich geschilderten emotionalen Zustände und Unzulänglichkeiten, die einen in seinen Bann ziehen. In näherer Verwandtschaft ließe sich auch Scott McCouds Der Bildhauer sehen, wo Fragen der künstlerischen Identität gegen die der männlichen ausgespielt werden. Und dann haben wir natürlich eine Legion an autobiografischen Comics aus dem Dunstkreis Clowes-Tomine-Brown-etc. Immer wieder mehr oder minder junge Männer, die sich ihrer Beziehung zur Welt im Unklaren sind. Nur Mut, Männer! Traut Euch einfach! Jedenfalls reicht eine reine Befindlichkeitsstudie nicht mehr aus.
Glücklicherweise bleibt Venustransit aber nicht dort stehen. Ben nutzt seine Quarter-Life-Crisis um endlich ernsthaft mit der Arbeit an seiner Graphic Novel zu beginnen. Und um sich inspirieren zu lassen und den Kopf frei zu kriegen, tritt er eine Reise nach Indien an. Das Reiseziel ist vielleicht nicht ganz originell, aber aus unerfindlichen Gründen macht es für mich absolut Sinn nach Jahren in Berlin Indien ins Blickfeld zu nehmen. Bens Reisetagebuch, und hier wird es womöglich autobiografisch, besteht aus realen Postkarten, Boarding Passes und anderen Tickets, vor allem aber aus Zeichnungen. Es sind keine Orte oder reale Gegenstände und/oder Menschen, die abgebildet werden, zumindest nicht so, dass es für Außenstehende erkennbar wäre. Es sind Abstraktionen.
War das Artwork im narrativen Teil zwar souverän und routiniert, aber im Grunde etwas brav und mitunter bis zur Leblosigkeit ausschraffiert, dominiert in der wilden Mitte des Bandes ein klarer Strich. Ein vom Impuls, Leichtigkeit und Formenfreude getragener Strich, der in guten Momenten sogar ins Erzählen kommt. Es sind kleine Sequenzen grafischer Poesie. Sie lassen sich nicht in Worte wiedergeben, was ihre Qualität aber überhaupt nicht mindert, ganz im Gegenteil. Auf manchen Seiten kommt man nicht herum, an den ebenfalls bei Avant verlegten Anders Nilsen zu denken, was als großes Kompliment gemeint ist.
Dann kehrt Ben zurück nach Berlin, was leider auch mit einer Rückkehr zum konservativen Zeichen- und Erzählstil einhergeht. Aber zumindest die Geschichte selbst hat nun etwas von der Lockerheit und Wildheit mitgenommen, welche im Reiseteil Spaß gemacht haben. Ben stellt seine Existenz in Berlin ganz neu auf. Er hat jetzt endlich das, was ihm zu Beginn des Bandes gefehlt hat: Lebensmut. Und dem Mut der Autors ist es zu wiederum verdanken, dass der Leser mit einem offenem, wenn auch ungewöhnlichen Ende belohnt wird. Die Entwicklung seines Protagonisten hat auf den Autor abgefärbt — auf Hamed Eshrats nächste Arbeit darf man schon gespannt sein.
Zeitgenössischer Entwicklungsroman im Comicformat, der durchschnittlich beginnt, aber sich dank mutiger formaler Brüche zu steigern weiß.
Avant-Verlag, 2015
Text & Zeichnungen: Hamed Eshrat
256 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 24,95 Euro
ISBN: 978-394503433
Leseprobe
1 Kommentare