Michael Mikolajczak hat eine beachtliche Anzahl von Comicerzählungen verfasst, die erzählerisch meist im Grenzbereich zwischen Thriller, True Crime und Horror angesiedelt sind. Mit Tick Tock liegt nun seine erste Kurzgeschichtensammlung vor, von verschiedenen Künstlern in einer großen stilistischen Bandbreite umgesetzt. Christian und Gerrit haben diesen Band genauer unter die Lupe genommen.
Christian: Bei Tick Tock handelt es sich laut Covertext um einen Blick in die Gedankenwelt von Michael Mikolajczak, worin es, wie zu erwarten war, eher düster zugeht. Er lässt die Geschichten für sich selbst sprechen, was ich etwas schade finde, denn gerade bei Kurzgeschichten erfahre ich gerne etwas über die Begleitumstände, Inspiration oder warum ein bestimmter Künstler gewählt wurde. Darin sehe ich einen größeren Mehrwert als in den beigefügten Skizzen.
Gerrit: Fangen wir mit der ersten Geschichte an – in „Das Vermächtnis des Herrn Edison“ geht es um die wahre Geschichte der ersten Hinrichtung mit dem Elektrischen Stuhl. Der Axtmörder William Kemmler wurde für die Ermordung seiner Partnerin 1890 zum Tode verurteilt, und damit begann die Geschichte einer neuen Hinrichtungspraxis, die zugleich ein Zeugnis des historischen „Stromkrieges“ zwischen den amerikanischen Unternehmern Thomas Edison und George Westinghouse ist. Während Edison sich für die Durchsetzung des Gleichstroms engagierte, versuchte Westinghouse den Wechselstrom durchzusetzen, und deren erbitterter Kampf bildet den Hintergrund der Geschichte. Im Zentrum stehen aber der zwanghaft eifersüchtige Kemmler und sein Opfer Tillie Ziegler, aus deren Perspektive wir die Geschichte geschildert bekommen.
Mikolajczak verknüpft ein Stück Wirtschaftsgeschichte mit einem True-Crime-Fall und dem Horrortopos, dass Verstorbene die Welt der Lebenden nicht vollständig verlassen, solange die Tat nicht gesühnt ist. Mikolajczak hatte sich schon mit Holger Klein an dem True-Crime-Comic Der Vampir von Düsseldorf versucht, der ihnen allerdings imho völlig misslungen war. Die Zeichnungen ließen keinerlei Interesse am historischen Setting erkennen, und letztlich kam dabei wenig mehr heraus als ein unangenehm-voyeuristischer Blick über die Schulter des Täters. Diese Story ist nicht viel besser. Das fängt mit dem Aussehen der beiden Unternehmer an, die mehrfach als die alten Männer gezeigt werden, als die wir sie von Wikipedia kennen mögen. Allerdings waren Edison und Westinghouse 1890 erst 43 Jahre alt und sehen Fotografien zufolge nicht so aus wie in „Das Vermächtnis des Herrn Edison“, wo wir den beiden in ihren 60ern zu begegnen scheinen. Wenn Tillie Ziegler ihren William als „alkoholkrank“ bezeichnet, ist das eine für das Jahr 1890 nicht undenkbare Feststellung, aber doch eine sehr fortschrittliche Sichtweise auf eine Saufnase.
Und wenn wir Edison vor dem durch Wechselstrom getöteten Elefanten sehen und denken, dass dies zur Vorgeschichte der Hinrichtung gehört, ist das irreführend. Der Elefant Topsy wurde erst viele Jahre später (1903) hingerichtet und steht mit dem Stromkrieg gar nicht direkt im Zusammenhang. Wenn der Comic hier einen expliziten Zusammenhang herstellt, ist das historisch falsch. Von „True“ Crime kann man mehr erwarten.
Christian: So genau nehme ich das mit historischen Abweichungen nicht. Wenn es eine plausible Möglichkeit gibt, dass es so stattfinden hätte können, wie es gezeigt wird, dann akzeptiere ich das in einer Erzählung, auch nach realen Ereignissen, gerne. Wir wissen ja auch nicht, was in William Kemmlers Kopf so los war; sicher etwas anderes, als uns Mikolajczak erzählt. Wenn ein Erzähler aber im Innenleben seiner Figuren übergriffig wird, warum dann nicht auch im Bereich einiger unbedeutender Fakten, die Freiheit soll er sich gerne nehmen. Was mich allerdings stört hat, ist Mikolajczaks Hang, in Sachen Düsternis immer noch eine Schippe draufzulegen, um den Gedanken an Hoffnung nicht mal im Ansatz zuzulassen. Ich mag nun mal keine rachsüchtigen Geister und finde es ziemlich abstoßend, dass der Geist von Tillie Ziegler ihren Mörder am Tag der Hinrichtung so vehement verhöhnt und verflucht. Außer natürlich, es wäre das Kopfkino von William Kemmler, der sich selbst die Tat nicht verzeiht. Ich stelle mir beim Lesen vor, dass Tillies Präsenz eine Projektion des Innenlebens von Kemmler ist. Wenn man es so liest, erhält die Geschichte eine Ebene, die über das bloße Zeigen von dem, was passiert, hinausgeht.
Im Gegensatz zum „Vermächtnis des Herrn Edison“, dem ich durch konsequentes Lesen quer über die Zeilen einiges abgewinnen kann, langweilt mich die darauf folgende, von Ernesto Rodriguez gestaltete Geschichte über den Bluesmusiker Robert Johnson und seinen legendären Deal mit dem Teufel. Johnsons Biografie und der Mythos um den Teufelsdeal bieten wirklich Raum und ungenutztes Potenzial für reizvolle Geschichten, so dass es mich ratlos macht, wenn sich Mikolajczak mit diesem dünnen Nichts an Storytelling zufriedengibt. Ein einziges Airbrush-Bild auf einer Motorhaube hätte das gleiche erzählen können, aber zugespitzter und besser.
Gerrit: Die Lebensgeschichte von Robert Johnson ist schon einmal als Comic umgesetzt worden. Mezzo und Jean-Michel Dupont haben dem Musiker mit Love in Vain (2015) eine umfangreichere Biographie gewidmet. Natürlich spielt auch darin der Teufel, dem Johnson der urban legend zufolge sein musikalisches Talent verdanke, eine große Rolle. In „Der Teufel und ich“ fehlt mir die Pointe. Dass Johnson am Ende sagt, er hätte seine Entscheidung nicht bereut, und der Teufel damit am Ende gut wegkommt, ist wirklich zu dünn.
Die nächste Story, „Königinnen“ wurde von Holger Klein umgesetzt, mit dem Mikolajczak schon an mehreren Comics gearbeitet hat (Paradies, Der Vampir von Düsseldorf, Blutspur). Die Handlung spielt dem Interieur nach und passend zu dem im Comic erwähnten Song „For your Love“ von Graham Gouldman in den späten 1960er Jahren. Der Beginn ist kryptisch, denn wir sehen zunächst eine blondhaarige Frau mit einer leichtgeöffneten Dose, auf deren Wölbung das Yin und Yang zu sehen ist. Die Perspektive wechselt, und wir blicken aus der halbgeöffneten Dose in das diffuse Licht. Im folgenden Panel sehen wir ein Muster, das wie ein Rorschachtest anmutet, sich aber im nächsten Panel als die Umrisse einer Wespe herausstellt, die in der Dose gefangen ist. Wir haben also erneut die Perspektive gewechselt und sehen als nächstes, wie die Wespe, eine „Kuckuckswespe“, die Dose verlässt. Das ausgehungerte Insekt bemerkt Kirschreste im Mundwinkel einer schlafenden Frau, die aufwacht und durch den Stich einen Schock erleidet und verstirbt. Die blonde Frau nimmt im „Kuckucksmodus“ ihren Platz ein.
Das ist für mich der erste Kurzcomic des Bandes, der funktioniert. Dass die Erzählstimme stets zugleich über die Wespe und die beiden Frauen spricht, so dass der Bezug etwas vage bleibt, ist ganz geschickt gemacht. Die Symbolik (sowohl das Yin und Yang als auch den Zusammenhang mit Graham Gouldman) verstehe ich nicht ganz, und die Funktion des Rorschachpanels erschließt sich mir auch nicht, aber die Darstellung erzeugt so eine Charles-Burns-Stimmung. Die Geschichte hat viele offene Fäden, an denen man sie zu greifen versuchen kann – ob etwas dahintersteckt, ist eine andere Frage, aber man kann hier und da suchen. Was die Zeichnungen von Holger Klein angeht, hatte ich wenig Sympathie für seine Arbeiten wie Paradies, Wolkes Wahn oder Der Vampir von Düsseldorf gehabt und bin sicher auch nach „Königinnen“ kein großer Fan. Aber hier stimmt vieles.
Christian: Ich kann den Arbeiten von Holger Klein einiges abgewinnen. Ebenso wie Michael Mikolajczak schreckt Klein vor plakativen Bildern nicht zurück, da haben sich die beiden richtigen gefunden. Ich mochte auch Der Vampir von Düsseldorf: Wie Klein und Mikolajczak die Beziehung zwischen dem Massenmörder Kürten und seiner naiv-gutgläubigen Ehefrau Auguste umkreisen, entfaltet vor allem durch den Umfang von mehr als 100 Seiten eine bedrückende Wirkung; so viel erzählerische Konsequenz bewundere ich, auch wenn es zugegebenermaßen kein zweites From Hell ist. In „Königinnen“ geht es selbstredend deutlich pointierter zu. Holger Klein hat den Figuren und Interieurs ein schickes Swinging-Sixties-Design verpasst, dazu flächige, bunte Farben, so dass das Betrachten alleine schon seinen Reiz hat. Der obskure Mord mit einer Wespe als Tatwaffe ist ebenso Style over Substance wie der ganze Rest des Settings, so dass ich hier schlichtweg die gelungene Komposition bewundere. Das bewegt sich auf einem anderen Niveau als die Robert-Johnson-Story.
Es folgt „Hänsels Reise“, von Zano passend in glubschäugigem Bilderbuchstil gestaltet. Hat Mikolajczak in den bisherigen Geschichten das Böse und Ambivalente zelebriert, kommt „Hänsels Reise“ im Gegensatz dazu mit einer eindeutigen pädagogischen Botschaft einher. Es geht um Pädophilie und Kinderpornografie, erzählt aus der Perspektive eines betroffenen Kindes. Der ständige Abgleich mit dem Märchen um Hänsel und Gretel dient dabei einer Bewältigungsstrategie, um das Erlebte einzuordnen. Ich sag dazu nur: Kinder brauchen Märchen – und offensichtlich keine durch sensitive reading weichgespülten, sondern den harten Stoff, der stets auch tiefenpsychologisch gelesen werden kann. Sie bieten besseres Rüstzeug für Traumabewältigung. Ich glaub das gerne. „Hänsels Reise“ hat ein positives, empowerndes Ende und eine sehr eindeutige Message: „Wir Kinder müssen lernen, Nein zu sagen.“ Sehr nachvollziehbar, dass Mikolajczak hier von einer ambivalenten Erzählhaltung Abstand genommen hat.
Gerrit: Nach drei Seiten fragte ich mich, ob die Parallelführung des grimmschen Märchens mit der Situation des Kindes auf eine Diskussion von Essstörungen hinauslaufen solle (der ständig essende Hänsel und die dicke Mutter) oder eine Allegorie auf das hilflose Gefühl von Jugendlichen in einer Welt der Erwachsenen. Als der Hexer, das Pendant zur Märchen-Hexe, ins Spiel kommt und sich herausstellt, dass die Mutter den Jungen an einen Pädophilen verkauft hat, ist das ganz schön dick aufgetragen. Aber gut, ist ja auch kein Pixibuch, und die grimmschen Märchen sind in der Originalfassung auch nicht so flauschig wie die aktuellen Kinderbuchversionen. In „Hänsels Reise“ sind Märchen und Realität sehr unterschiedlich gestaltet: bunt, flächig und cartoonig die Märchenwelt, dunkel, wild schraffiert die Realität. Das ändert sich erst, als der Wohnwagen des Kriminellen in Brand gesteckt wird. Plötzlich springt das leuchtende Gelb aus dem Märchen in die Realität über, so als ob es doch noch Hoffnung für die gepeinigte Kinderseele gäbe. Mir hat schon Mikolajczaks freier Umgang mit E.T.A. Hoffmanns Sandmann gefallen (hier auf Comicgate). Das gilt für „Hänsels Reise“ auch, vor allem dank der Zeichnungen von Zano.
Was machen wir mit „Smiley“ … Es handelt sich um die Geschichte einer Marilyn-Monroe-Lookalike-Schauspielerin, deren Lächeln die Menschen fasziniert. Durch die Pandemiemaßnahmen ist sie gezwungen, eine FFP2-Maske zu tragen und kann so weder ihre Faszinationskraft ausschöpfen noch ein Feedback von anderen bekommen. „Wozu brauche ich mein Lächeln dann noch?“ In ihrer Verzweiflung malt sie sich mit ihrem roten Lippenstift (abgesehen von selbst zugefügten blutigen Kratzern in ihrem Gesicht der einzige Farbakzent) einen Smiley auf die Maske. Ende. Ein kurzes One-Woman-Show-Kammerspiel ohne Dialoge oder große Handlung. Die Story enthält keine politische Botschaft, keinen Appell für die Maßnahmen in weiteren Pandemien. Sie ist kein ideologischer Essay. Die Geschichte erzählt von einem Verlust im öffentlichen Leben, dem sicher viele beipflichten können. Auch wenn es doch manchmal auch angenehm sein kann, sich in dieser Gefühlsanonymität bewegen zu können, ganz unerkennbar für alle, welche Stimmung man gerade hat.
Es hat etwas (ungewollt?) Ironisches, dass der Verlust von sozialem Austausch über Mimik ausgerechnet an einer Person dargestellt wird, die diese Mimik nicht als authentische Gefühlsäußerungen zeigt, sondern als einstudierte schauspielerische Tätigkeit. Ihr Lächeln ist ja nicht Ausdruck ihrer Gefühle, sondern Teil ihrer Rolle. Der Austausch erfolgt zudem über eine Leinwand, ist also einseitig. Und hinzu kommt, dass die Schauspielerin (warum sieht sie eigentlich wie Monroe aus?) ausschließlich vor einem Standspiegel agiert – noch selbstbezogener geht es nun kaum. Vielleicht wirft das auf die Gefühle dieser Frau ein viel dunkleres Licht … An diesem Punkt bekommt die Geschichte etwas Subversives, das mir sehr gut gefällt.
Christian: Dann ist die Geschichte tatsächlich vielschichtiger, als es zunächst den Anschein hat – gut beobachtet. Meiner Meinung nach handelt es sich hier aber nicht um ein Marilyn-Lookalike sondern um Marilyn selbst, aber eben versetzt in die Situation der Pandemie. Und egal wie man zur Selbstbezogenheit von Marilyn und ihrem Streben nach Außenwirkung stehen mag, ist die Welt ohne ihre Ausstrahlung eben doch eine deutlich andere. Ich erinnere mich noch gut daran, wie Schauspieler während der Pandemie mit der Krise – manche mehr, manche weniger geschickt – umgegangen sind. Ich selbst habe zu der Zeit aus Zuschauerperspektive zwei Varianten gesehen: a) In gegenwartsbezogenen Filmen wird ab sofort Maske getragen und das auch thematisiert. Damit wäre die Zäsur extrem und das Thema Pandemie wäre immer Teil der Handlung – ich hätte das in dieser Konsequenz nicht sehen wollen; oder b) Maske und Pandemie werden schlichtweg ignoriert und es würde so getan, als gäbe es keine Problem – aber das wäre unlauter gewesen und hätte nichts mit der Realität oder mir selbst zu tun. Beides erschien mir gleichermaßen unangenehm. Ich finde die Projektion der Problematik auf die Marilyn-Monroe-Figur sehr gelungen. Unter der Klarheit der Darstellung und der vermeintlichen Banalität – wir alle haben schließlich ähnliche Erfahrungen gemacht – lauern Untiefen. In diesem Fall glaube ich nicht, dass wir das nur so hineininterpretieren. Das ist gut erzählt.
Kommen wir zu „S.C.U.M.“, dem Beitrag von Sascha Dörp. Das Akronym SCUM steht für „Society for cutting up men“: So lautete der Titel des männerfeindlichen Manifests von Valerie Solanas, der Frau, die Andy Warhol erschoss. Mikolajczak und Dörp erzählen uns eine fiktive Episode, in der Valerie direkt nach dem Anschlag eine Begegnung mit einer afroamerikanischen Putzfrau hat; es entwickelt sich ein kleines Dialogstück über Benachteiligung und Missbrauch. Interessanter als der Inhalt des Gesagten ist aber das Zusammentreffen der im eigenen Hass verstrickten Valerie mit einer durch und durch empathischen Gesprächspartnerin. Es mag etwas mechanisch erzählt sein, wenn zwei sehr unterschiedliche Lebenslinien sich hier verflechten und wieder abstoßen, es hat aber auch einen guten Rhythmus und eine wirkungsvolle Pointe. Erzählhandwerklich ist das sehr gelungen, und Sascha Dörps Stil sieht hier aus wie von Sean Phillips während seiner Hellblazer-Phase.
Gerrit: Ich habe für die Comics von Sascha Dörp (Ratten) eine gewisse Grundsympathie, weil er Mainzer ist, aber das hat mit den Comics natürlich wenig zu tun. Der Kurzcomic spielt am 3. Juni 1968, also kurz nach der Ermordung Martin Luther Kings, so dass anfangs zu vermuten ist, die Bürgerrechtsbewegung stehe im Fokus. Die obdachlose Martha ist aber nicht nur Opfer rassistischer Strukturen, sondern auch von männlicher Gewalt. Dies wird erst klar, als sie den Krankenwagen beobachtet, der Andy Warhol vom Tatort ins Krankenhaus bringt. Als sie der Attentäterin, Valerie Solanas, begegnet, erklärt diese ihre feministischen Gründe für die Tat – zum Teil wörtlich zitiert aus ihrem „Scum Manifesto“ (hier online als Volltext). Klingt absurd, ist aber sehr dicht an der Realität, wie dieser Artikel über das Attentat zeigt. Solanas war an einem Film Warhols beteiligt und unzufrieden mit den Arbeitsbedingungen – was für eine unfreiwillige Parallele zu der aktuellen Kritik an Till Schweiger … Ich finde an dem Comic die Diskrepanz zwischen dem Leiden der beiden Figuren sehr spannend. Martha erleidet über Seiten hinweg ungerechtfertigte Gewalt und bleibt dabei völlig stumm, überhaupt erzählt Dörp diese Passage unter weitgehendem Verzicht auf Text. Valerie hingegen plappert ohne Punkt und Komma, ihr Leiden erscheint eher als Diskursproblem. Die Pointe, dass am Ende auch Warhol ein (männliches, weißes) Opfer ist, gefällt mir auch.
In „Der Fluch der weißen Fledermaus“ von Mikolajczak und Chris W. Jany geht es wiederum um eine Verarbeitung der Corona-Jahre. Schon im Alten Rom seien die Menschen von einem Virus dahingerafft worden, das von der Fledermaus auf den Menschen übertragen worden – und aus China nach Europa gekommen sei: „Kein Lebewesen beherbergt so viele Viren wie eine Fledermaus.“ True. Dass Bruce Wayne nach einer viralen Infektion durch den Kontakt mit Fledermäusen allmählich wahnsinnig wurde und das Virus an die Ganoven von Gotham City weitergab, ist eine wirklich wilde Idee. Janys Collagetechnik, Beobachtungen und Ereignisse über Jahrhunderte hinweg auf einer Seite zu arrangieren und damit Bezüge herzustellen, ist auf den ersten Blick verwirrend. Und auf den zweiten Blick leider immer noch. Ich habe keine Ahnung, worin die Pointe überhaupt bestehen soll. Immerhin ist der düstere Schwarzweiß-Stil von Jany sehr markant, manchmal auch desorientierend und überladen, aber die Zeichnungen fordern dennoch dazu auf, genau hinzusehen. Nicht mein Fall, aber ich lasse mich eines Besseren überzeugen. Vielleicht kannst du der Geschichte mehr abgewinnen als ich.
Christian: Du sprichst von Batman, als wäre „Der Fluch der Fledermaus“ eine ausgewiesene Batman-Geschichte, dabei wir das an keiner Stelle explizit ausgesprochen. Das müssen wir schon selbst mit unserem Vorwissen ergänzen. Ich finde, Chris Janys Geschichte hätte perfekt in die Anthologie Batman – Black and White gepasst. Auch dort sind die Storys in schwarzweiß, haben 8 Seiten (hat Janys Story auch, wenn man die Intro-Seiten, in denen nichts erzählt wird, weglässt) und sind abseits der Chronologie liegende Shorts mit oft sehr gelungener Pointe. Ich erinnere mich dabei vor allem mit Begeisterung an Klaus Jansons Beitrag, an den mich Janys Darstellung in Teilen erinnert. Der Gedanke, dass Batman selbst für die verrückten Gestalten in Gotham-City und Arkham Asylum verantwortlich ist, weil er sie durch sein exzentrisches Kostüm erst anzieht, ist nicht neu, erhält aber durch Mikolajczaks Herangehensweise einen neuen Spin. Der unübersichtliche Schwarzweißstil hat für mich einen schönen Underground-Charme. Die wilden Schraffuren, Rasterpunkte und sonstigen Stilmittel wirken auf mich wie das Booklet einer Indie-Schallplatte aus den 1980ern und gefällt mir gut. Für mich einer der Höhepunkte des Buchs.
Die Abschlussgeschichte des Bandes ist das von Jacek Pietrowski gestaltete „Tick Tock“, mit ca. 25 Seiten die längste Story des Bandes. „Tick Tock“ handelt von der wohl wahren Begebenheit, dass ein Arzt des 19. Jahrhunderts seine Frau nach ihrem Tod einbalsamiert und in seiner Wohnung konserviert hat, weil diese Angst davor hatte, lebendig begraben zu werden. Die weiterführende Erzählung über einen verborgenen Schatz, über den der Arzt die Verstorbene, auf welche Weise auch immer, befragen wollte, dürfte dazuerfunden sein. „Tick Tock“ ist in einem morbiden Herrenhaus-Ambiente angelegt, das dem ersten Sandman-Heft von Sam Kieth und Neil Gaiman nicht unähnlich ist. Einmal gibt es einen Hinweis, dass in der Nähe das Anwesen der „DeQuinceys“ ist, was vermutlich auf Thomas De Quinceys Confessions of an Opium Eater verweisen soll, ein romantisch-dekadentes Kultbuch des 19. Jahrhunderts, auf das sich auch Dario Argento mit seiner Filmsaga über die „drei Mütter“ bezog – Suspiria, Inferno und La Terza Madre. Der Zeichenstil ist stilistisch zweigeteilt. Einerseits dominiert ein morbider Stil, Frederic Bezians Zeichnungen in Der Fluch des Adam Sarlech nicht unähnlich, was aber später, als es um die hektische Nervosität des Doktors geht, als seine Pläne zu scheitern drohen, durch einen karikierenden Stil aufgelockert ist, der sich wohl am besten als eine Mischform von Clip Art, Marc Hempel, Kyle Baker und Tommy Schwarwel bezeichnen lässt. Unterm Strich ist mir das stilistisch zu ausgefranst. Es bleibt unklar, worauf Michael Mikolajczak mit „Tick Tock“ letztlich hinauswill und der Stilmix von Jacek Petrowski ist da wenig hilfreich.
Gerrit: Horror entsteht ja gern durch massive Grenzübertretungen. Wesen, welche die Grenze zwischen Tier und Mensch in Frage stellen (Werwölfe), sind ebenso gruselig wie Wesen, die sich nicht an unsere Vorstellung von innen und außen (Ridley Scotts Alien) halten. Am sensibelsten ist natürlich die Grenze zwischen dem Lebendigen und dem Toten, und wenn Zombies oder Vampire diese Grenze missachten, ist Gänsehaut fast garantiert. Die Phantasie, dass Menschen lebendig begraben werden, ist nun ein wirklich klassisches Motiv. Bei dem Thema „Buried alive“ kommen mir sofort diverse Gruselklassiker in den Kopf, darunter eine Short Story von Edgar Allan Poe aus dem Jahr 1844. Und auch das Ticken der Standuhr lässt an Edgar Allan Poes „Das verräterische Herz“ denken, führt aber in die Irre, denn darum geht es in dieser Geschichte, vermeintlich „nach einer wahren Begebenheit“ aus dem Jahr 1769, nicht. Den historischen Anknüpfungspunkt habe ich nicht nachvollziehen können, aber das ist auch nicht wichtig – die Geschichte kokettiert überhaupt nicht damit, dass dies ein wahrer Fall ist. Man könnte die Wahrheitsbehauptung auch als eine literarische Formel lesen, die keinerlei Bedeutung hat.
Der gierige Arzt Charles verstirbt am Ende in dem Haus der Verstorbenen, in einem Zimmer voller Jagdtrophäen an den Wänden – ein Ausstellungsraum des Todes. Seine Haltung der Toten gegenüber ist mir etwas zu unbestimmt. Einerseits sucht er voller Gier die Reichtümer, die sie versteckt habe, zum anderen kümmert er sich aufopferungsvoll um den Leichnam der Verstorbenen, „unserer alten Freundschaft wegen“. Am Ende steigert er ihre Beziehung (vielleicht aber auch aus Kalkül) noch weiter: „Sag es mir, Geliebte.“ In Poes „Das verräterische Herz“ setzt sich am Ende die poetische Gerechtigkeit durch, wohingegen hier der Tod des Arztes eigentlich keinen kausalen Zusammenhang zu seiner Gier hat. Das übernatürliche Ereignis am Ende ist gar nicht erkennbar motiviert. Was mir aber sehr gut gefällt, ist der verschrobene, kantige, plakative Stil von Piotrowski, auch Zeichner der schon erwähnten Sandmann-Adaption. Seine Figuren sind so herrlich überzogen und dort, wo Mikolajczak raffend erzählt, auch cartooniger, reduzierter.
Gerrit: Und nun, alles in allem? Ich finde den Band reichlich durchwachsen und kann nicht alle Kurzgeschichten gleichermaßen empfehlen. Unsere ausführliche Diskussion überzeugt mich aber, dass der Band insgesamt funktioniert, weil er uns nicht kalt gelassen hat.
Christian: Tick Tock – Kult Geschichten 1 ist eine Zusammenstellung mit viel Herz und originellen Ideen und ich sehe mit einiger Erwartung den kommenden Arbeiten der beteiligten Künstler entgegen. Michael Mikolajczak ist dabei ein Erzähler mit einer sehr charakteristischen Stimme, immer ambitioniert und häufig auch sehr treffsicher.
Gerrit Fazit: Horror mit Höhen und Tiefen
Christians Fazit:
Ambitionierte Geschichten über Wahnwelten
Kult Comics, 2023
Text: Michael Mikolajczak
Zeichnungen: Sascha Dörp, Chris W. Jany, Holger Klein, Paolo Massagli, Erik van Schoor, Jacek Piotrowski, Ernesto Rodriguez, Christian Zanotelli,
120 Seiten, schwarz-weiß und Farbe, Hardcover
Preis: 22 Euro
ISBN: 978-3964303387
Leseprobe