In diesem Jahr feiert Sigmund Freuds Aufsatz „Über das Unheimliche“, in dem er sich E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ näher anschaut, hundertjähriges Jubiläum. Hoffmanns Schauer-Klassiker von 1816 ist auch als Comic präsent, gleich mehrfach.
Hoffmann hatte mit seiner Erzählsammlung der Nachtstücke wenig Glück: Er konnte den Kritiker- und Publikumserfolg seiner Fantasiestücke (1814) nicht wiederholen, und die Nachtstücke, deren Anfang Der Sandmann darstellt, blieben bis zu Sigmund Freuds populärer Lektüre des „Sandmanns“ eine Textsammlung für Eingeweihte. Inzwischen zählt der Sandmann zu den Klassikern romantischer Literatur. In letzter Zeit sind gleich zwei Adaptionen des Stoffes erschienen.
Es geht in dieser Geschichte um Nathanael, der als kleiner Junge täglich von seiner Mutter mit den Worten „Der Sandmann kommt“ ins Bett geschickt worden ist, diesen aber (leider) als reale Erscheinung missversteht und in dem Advokaten Coppelius zu erkennen glaubt. Bedauerlich, dass auch noch das Kindermädchen eine Gruselgeschichte über den Sandmann erzählt, der seine Kinder mit den Augen unartiger Kindern füttere – Erziehungsratgeber empfehlen anderes … Dieses Trauma beschäftigt Nathanael nun, und dass der Vater bei einem alchemistischen Experiment im Beisein von Coppelius ums Leben kommt, macht die Sache wirklich nicht besser.
Liegen diese Kindheitserfahrungen nun hinter ihm, lässt ihn das erlittene Trauma doch nicht los. In einem Wetterglashändler glaubt er Jahre später, Coppelius wiederzuerkennen und kauft der mysteriösen Gestalt auch noch ein Fernglas ab. Mit diesem erblickt er Olimpia und verliebt sich in diese, während er seine geliebte Clara vergisst – ein Missverständnis, handelt es sich bei Olimpia doch nur um einen Automaten, den ihr Schöpfer/Vater Spalanzani geschaffen hat. Die Geschichte endet schlecht, so viel darf man vorwegnehmen, für Nathanel, der seine Obsession, überall Coppelius zu sehen, nicht ablegen kann und Clara darüber verliert.
Der italienische Grafiker Andrea Grosso Ciponte hat die Story in reichlich düstere Farben gesetzt und manches Mal den sanften Schauer in blanken Horror überführt – oben (s. Abb.) zitiert Ciponte die berühmte Szene aus Bunuels surrealistischem Filmklassiker Der andalusische Hund (1929) und wird manche*n an das Gefühl erinnern, als er oder sie diese Szene zum ersten Mal sah.
Insgesamt ist die Stimmung des Originals gut getroffen, und die zentralen Motive (etwa die Augen oder das romantische Kernmotiv der künstlichen Automaten) werden wieder und wieder zitiert. Manche Details gehen dabei verloren: Dass Clara am Ende einen „grauen Busch“ sieht, in dem Nathanel Coppelius erkennt, entfaltet seinen Witz nur in Hoffmanns Erzählung, wo Nathanael dessen „buschige graue Augenbrauen“ beschreibt. Bei Ciponte geht dies verloren.
Sonst bleibt dieser Sandmann, trotz aller notwendigen Kürzungen, in Text und Handlung dicht am Original. Allerdings: Wenn Comic-Künstler*innen, um den Erzähler einer Geschichte ins Bild zu setzen, den Autor der Erzählung porträtieren, schlage ich die Hände überm Kopf zusammen: Der Autor ist nicht der Erzähler. Punkt.
Es handelt sich bei Cipontes Sandmann um den Auftaktband der Graphic-Novel-Sparte der Edition Faust. Diese nennen sich „Dust Novels“, weil die Geschichten, so Verlagsleiter Werner Ost, bereits Staub angesetzt hätten. Die Serie ist insofern auch ein Entstaubungsprojekt für zeitlose Klassiker. Zugleich ist es eine Originalausgabe für die Edition Faust, die nicht auf Italienisch verfügbar ist. Inzwischen ist der Sandmann in einer zweiten Auflage erschienen, weitere schaurige Klassiker liegen bereits vor: Schillers Geisterseher, Walpoles Schloss von Otranto oder Storms Schimmelreiter – letzterer überspitzt ebenfalls die unheimliche Atmosphäre des Originals (ganz im Gegensatz zu Jens Natters Schimmelreiter-Comic von 2014), geht aber ebenso lax mit dem Urtext um wie zuvor Ute Helmbold (2013, Rezension).
Einen ganz anderen Ansatz als die recht treue Übertragung von Ciponte haben Michael Mikolajczak (Story) und Jacek Piotrowski (Zeichnungen) gewählt. Ihr Sandmann ist eine Fortsetzung des Originals. Nathanael und Coppelius leben als Nachbarn Tür an Tür und lassen uns in fünf Akten an ihrer Geschichte teilhaben.
Hoffmanns Original erzielt seinen wesentlichen Reiz aus den Wechseln der Erzählperspektive, denn es ist eine Erzählung in Briefen, die Nathanel und Clara sich wechselseitig schreiben. Dieses Spiel mit der „Perspektive“, das inhaltlich mit den Ferngläsern, den Augen und den Brillen korrespondiert, haben Mikolajczak und Piotrowski ungemein umsichtig umgesetzt, indem sie dieselben Erlebnisse Nathanaels bzw. Coppelius‘ nacheinander aus beiden Perspektiven erzählen. Dabei werden Originalzitate der Hoffmann-Erzählung immer wieder in neue Kontexte versetzt. Grandios.
Die Schwarzweiß-Zeichnungen Piotrowskis kommen wie Giacometti-Illustrationen daher, einen besonders eindringlichen Effekt haben die montierten Fotografien Olimpias, die konsequent nicht gezeichnet wird und so einen anderen Realitätsstatus erhält. Damit versetzen Mikolajczak und Piotrowski den Leser bzw. die Leserin tief ins „uncanny valley“, in dem das Leblose uns als unheimlich lebendig erscheint.
Während die grafisch sehr avancierte Adaption Cipontes recht brav am Original hängt, sich dabei aber auch keine Blöße gibt, haben Mikolajczak und Piotrowski mit ihrem Sandmann eine kühne Umerzählung gewagt. Diese ist reizvoll vor allem für Kenner des Originals. Das „Unheimliche“, das Sigmund Freud vor hundert Jahren so sehr interessiert hat, wird in beiden Comics ansprechend ins Bild gesetzt.
Im September wird bei Knesebeck eine weitere Adaption von Hoffmanns Klassiker erscheinen: Von Vitali Konstantinov (FMD – Leben und Werk von Dostojewski) wird noch ein ganz anderer Zugang zu erwarten sein.
Treue Adaption vs. kühne Neulektüre
Edition Faust, 2014 (2. Aufl 2019)
Text und Zeichnungen: Andrea Grosso Ciponte
Übersetzung: Myriam Alfano
56 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3945400036
Leseprobe
Kult Comics, 2019
Text und Zeichnungen: Michael Mikolajczak, Jacek Piotrowski
160 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3964300249
Leseprobe
4 Kommentare