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Paul zu Hause

Paul zu Hause – ein Titel könnte kaum weniger versprechen. Aber wer den kanadischen Autor und Zeichner Michel Rabagliati sowie dessen Paul-Comics kennt, weiß, dass sich hinter dem lakonischen Titel eine grandiose Story verbirgt.

Alle Abbildungen © Edition 52

Die Handlung spielt im kanadischen Montreal, der zweitgrößten Stadt Kanadas, in der östlichen Provinz Quebec gelegen. Die Hauptfigur der Geschichte, der erfolgreiche Comic- oder Cartoonzeichner Paul, ist zum Zeitpunkt der Handlung, das ist im Jahr 2012, 51 Jahre alt. Er besitzt ein Haus und hat zu seiner erwachsenen Tochter eine sehr gute Beziehung. Soweit so gut, aber damit sind die erfreulicheren Momente seiner Situation auch schon vollständig erfasst. Er ist geschieden und sucht nur sporadisch nach einer neuen Partnerin. Seine Mutter erfährt, dass der Krebs zurückgekommen ist. Und seine Tochter möchte nach London auswandern. Um Pauls Gesundheit ist es nicht allzu gut bestellt. Kein Sport. Keine gesunde Lebensweise. Kein Wunder, dass Fremde ihn für wesentlich älter halten. „Ich bin erst 51.“ – „Ach ja? Sieht man gar nicht!“ Ein skurriler Dialog fast wie von Bert Brecht.

Pauls Garten und insbesondere der versiffte Swimming Pool verdeutlichen den allmählichen Zerfall: „Alles hier stirbt vor sich hin.“ Als er versucht, sich mit seinen hydraulischen Kenntnissen selbst an die Reparatur zu machen, scheitert er natürlich. Der Baum an seiner rechten Seite ist, immerhin, erst halb verstorben. Schließlich wird er sich entscheiden, ihn fällen zu lassen.

In diesem Comic ist nichts aufregend. Paul kauft ein. Er besucht seine Mutter. Er schaut fern. Er fährt Bus. Eine dramaturgische Abwärtsspirale fernab der kosmischen Konflikte in Marvels Universen. Und gerade das macht diesen Comic so unglaublich lesenswert, weil er kleine Alltagsbeobachtungen anstellt, die keine große Bedeutung haben mögen, die aber für Paul Bedeutung haben. Seine Abneigung gegen allgegenwärtige Smartphones, die in seiner Phantasie gipfelt, allen Smombies (Jugendwort des Jahres 2015 – lang ist’s her) die Geräte aus den Händen zu reißen. Macht er aber (natürlich) nicht. Seine nerdige Leidenschaft für Typographie, der wir manche Anekdote über die Geschichte der Schriftarten auf kanadischen Autobahnbeschilderungen verdanken. Das Abseitige gerät ins Zentrum der Aufmerksamkeit, und doch ist Paul durch und durch gewöhnlich.

Was so herrlich dramatisch nach Hitchcocks Psycho aussieht, hat mit Norman Bates Übermutter wenig zu tun. Die Wirklichkeit ist viel glanzloser als die Filmfiktion. Pauls Ex-Frau spricht nicht mehr mit ihm.

Wir haben an seiner Gedanken- und Gefühlswelt teil und erleben diese Welt durch seine Augen, aber es bleibt doch immer soviel Distanz bzw. Ironie, so dass wir Paul nicht ganz und gar verfallen. Dass es Michel Rabagliati gelingt, ihn in seiner Fremdheit uns näherzubringen, ist seine große Kunst. Was zu seiner Scheidung geführt hat, erfahren wir gar nicht und wir müssen uns auch nicht auf seine oder ihre Seite schlagen, denn es geht hier nicht um Täter und Opfer, sondern um das Leiden an sich. Paul zu Hause ist eine einfühlsame Geschichte über einen Mann, dessen Leben auseinanderzubrechen scheint.

Wer die unregelmäßig erscheinenden Bände dieser losen, semi-autobiografischen Serie verfolgt, hat die Hauptfigur beim allmählichen Altern beobachtet. Die Comics erschienen ursprünglich in dem kanadischen Verlag Les Éditions de la Pastèque mit Sitz in Montreal. Seit 1999 sind neun Bände über Paul erschienen, und mit Paul à la maison (Paul zu Hause) erschien 2019 der bislang jüngste und zehnte Band. In Deutschland ist bislang nur Pauls Ferienjob erhältlich, ebenfalls bei Edition 52. Nun also auch Paul zu Hause. Zur besseren Übersicht ist hier eine Liste der Comics, die zuerst im französischsprachigen Kanada erschienen, dann in den USA – und leider nur sporadisch in Deutschland. Ins Spanische und Chinesische hingegen sind die Comics bereits mehrfach übersetzt worden.

  • Paul à la Campagne (1999, engl. Paul in the Country)
  • Paul a un travail d’été (2002, engl. Paul Has a Summer Job 2003, dt. Pauls Ferienjob, 2008)
  • Paul en appartement (2004, engl. Paul Moves Out 2005)
  • Paul dans le métro (2005)
  • Paul à la pêche (2006, engl. Paul Goes Fishing 2008)
  • Paul à Québec (2009)
  • Paul au parc (2011, engl. Paul Joins the Scouts 2013)
  • Paul dans le Nord (2015, engl. Paul up North 2016)
  • Paul à la maison (2019, engl. Paul at Home 2020, dt. Paul zu Hause 2022)
  • 2018 ist außerdem anlässlich des 375. Jubiläums der Stadt Montreal der Band Paul à Montréal erschienen, der im März 2024 neu aufgelegt wird.

Paul schlendert an den Villen wohlhabender Menschen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Sein Ziel ist die Wohnung seiner Mutter.

Der melancholische Ton in Paul zu Hause ist keineswegs neu. Schon seine früheren Bänden zeichneten sich stets dadurch aus, dass die fröhliche Stimmung, ausgelöst durch die Schilderung amüsant-skurriler Szenen, immer wieder von traurigen oder nachdenklichen Momenten unterbrochen werden. In Paul Has a Summer Job geschieht dies, als der Vater eines Arbeitskollegen plötzlich verstirbt und die gelöste Ferienstimmung umschlägt. Zwischen Paul und einer Kollegin entwickelt sich nach langem Hin und Her eine Liebesbeziehung, wenngleich diese kaum Bestand über den Ferienjob hinaus hat. Bei Paul zu Hause wartet man ständig auf so einen Hoffnungsschimmer, wo soviel Trübsal schwelt, aber bis zuletzt bleibt die Welt so farblos grau-in-grau, wie Rabagliati sie gezeichnet hat.

Und doch gibt es ganz am Ende ein wenig Sonnenschein. In seinem Garten pflanzt Paul an der Stelle, an der zuvor ein sterbender Baum stand, eine neue Pflanze. Wenig aufregend und doch sehr symbolisch.

Paul zu Hause knüpft an die anderen Bände an, hat aber doch einen eigenen Ton. Ob das nun im Detail immer so autobioigrafisch ist, wie die Nähe der Figur zum Autor suggeriert, ist letztlich egal. Rabagliati ist ein unaufgeregtes Meisterwerk über einen Menschen in einer tiefen Lebenskrise gelungen.

Bewegende Charakterstudie

10von10Paul zu Hause
Edition 52, 2022
Text und Zeichnungen: Michel Rabagliati
Übersetzung: Swantje Baumgart
208 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3948755096
Leseprobe

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