Schaut man in die hiesige Webcomiclandschaft, kriegt man schnell den Eindruck, ohne festen Protagonisten und irgendeine Art von (zumindest loser) Rahmenhandlung geht es nicht. Schon ein Blick in die Nachbarländer erinnert uns aber schnell daran, dass der Webcomic in seiner Frühform vor allem ein eher kolumnenartiges, kommentierendes Medium war. Dieser Ansatz ist inzwischen bei vielen Webcomics kaum noch zu erkennen. Mit Keate Beatons Obacht! Lumpenpack (Hark! A Vagrant) kommt nun einer der international bekanntesten Vertreter dieser „urtümlichen“ Gattung endlich auch bei uns an.
Entsprechend ihrem Studium (Anthropologie und Geschichte) jagt Kate Beaton anstelle ihres Alter Egos lieber bekannte und weniger bekannte Personen der (Populär-)Literatur und Geschichte durch ihre Strips. Neben den großen Klassikern wie Watson und Sherlock, Jules Verne, Faust und Napoleon kommen aber auch unbekanntere Helden der Vergangenheit zu Wort, gerade aus europäischer Sicht; oder wem ist John Adams spontan ein Begriff?
Obacht! Lumpenpack versammelt sowohl bekannte Strips von Beatons Homepage, als auch ein paar neue, die bisher nicht veröffentlicht wurden. Während einige Figuren nur einmalige oder selten wiederkehrende Auftritte haben, gehören andere fast schon zum festen Repertoire und ermöglichen auch Lesern, denen sie nicht bekannt sind, eine gewisse Bindung aufzubauen. Neben den bekannten Personen hat die Autorin besonders für die eher unbekannten Helden, die es nicht auf die große Bühne der Geschichte geschafft haben, ein Herz und lässt diese in ihren großen Momenten zu Wort kommen. Als Akzent versetzt sie dem ganzen oft einen Kommentar, der die Figuren und ihre Handlung vor dem heutigen politischen und gesellschaftlichen Weltbild betrachtet. Das sorgt, zumindest beim ersten Lesen, fast immer für Erheiterung und bewegt zugleich zum Innehalten und zur Reflektion, was immer noch eine der wichtigsten Funktionen eines guten Kommentars ist. Die jeweils eigentlichen Schlüsse daraus muss sich der Leser meist selbst erarbeiten, jedenfalls sofern es überhaupt welche gibt.
Das Simple und Entlarvende an vielen von Beatons Gags liegt oft darin begründet, dass die von ihr zitierten Vorlagen, wenn man einmal die üblichen Betrachtungen (Stolz und Vorurteil – schmachtend, Dracula – gruselig) beiseite lässt, selbst oft sehr einfache und nicht selten auch verstörende Botschaften enthalten. Zum Beispiel, dass Bram Stokers Dracula den Freiheitsdrang von Frauen mit dem Beginn der Hölle auf Erden gleichsetzt, oder dass alle Fremden bei Stocker in der Regel rückständig, brutal oder beides sind? Auch das Hipster-Phänomen entlarvt Kate Beaton als altbekannt. Schon Goethe hatte mit seinen jammernden Werther-Fanboys zu kämpfen und mit den Incroyables und Merveilleuses gab es schon zu Zeiten der französischen Revolution geistige Verwandte der Hipster. In ihren besten Momenten entlarvt Beaton mit simplen Pointen und zugleich messerscharfen Beobachtungen.
Ähnlich verhält es sich mit ihren Zeichnungen. Was auf den ersten Blick krakelig und in der Mimik hölzern und unausgereift wirkt, entlarvt bei genauerem Hinsehen ein im Lauf der Jahre geübtes Talent, sehr nuanciert Emotionen zu transportieren. In Kombination mit ihrem Erzählstil schafft Beaton es auf diese Weise, das Objekt ihres Interesses Ebene für Ebene zu zerlegen und zu analysieren. Der schnelle Strich passt zum Kommentar und verhindert, dass eine kurzfristige, oft intuitive Idee oder Frage zu sehr durch eine aufwändigere Umsetzung aufgehalten und verwässert wird. Das ist zweifellos Geschmacksache, aber ehrlich und keineswegs ein Anfall von „Krakel ist Kunst“.
Kate Beaton nutzt den (Web-)Comic in einer seiner ursprünglichsten Funktionen, die zugänglicher kaum sein könnte, vorausgesetzt man ist mit den jeweiligen Figuren vertraut. Und damit kommen wir zum einzigen größeren Kritikpunkt des Ganzen. Wenn sie sich an weniger bekannten Figuren festbeißt, hat man als Leser nicht immer eine Chance, das nötige Verständnis für diese und ihre Rolle zu entwickeln. Im Bestfall gibt es einen knappen erläuternden Kommentar. Der ergänzende Index ist zwar eine gute Idee, hätte aber besser nach Seiten- bzw. Stripnummer sortiert werden sollen. In der vorliegenden Form hängen mehrere Pointen unnötigerweise direkt vom Grad der Belesenheit des Lesers ab.
Bei Beatons großem Talent zum Kommentar wäre es im übrigen keine Verschwendung gewesen, ihr – quasi als kleine Pausenfüller – einige reine Textseiten zu spendieren, um sich dort weiter auszutoben. Dass sie ein Talent zum pointierten und sehr unterhaltsamen Kommentar hat, erkennt man schnell und sie gehört damit zu den wenigen Autoren und Zeichnern in Personalunion, denen man manchmal eine Befreiung aus der kleinen Sprechblase wünscht. Die hier und da vorhandenen Kommentartexte geben den Strips nicht nur einen für den Leser oft hilfreichen Kontext, sondern sind auch ein hervorragendes Hilfsmittel, um die Comics besser einordnen zu können.
Dieses Beispiel sollte im Übrigen auch bei anderen Autoren übernommen werden, wenn ihre Webcomics gedruckt werden. Denn so bekannt die Themen der Strips teils auch sind, gerade bei kurzweiligen Episoden ist der jeweilige Kontext aus Sicht der Erzähler manchmal genau jene Prise Salz, die das Ganze zu einem kleinen Meisterwerk macht. Man könnte darauf beharren, dass alles Relevante „im“ Comic sein muss, doch beweist der Webcomic nicht, wie wichtig und rentabel Intermedialität ist?
Dass dem Zwerchfell Verlag diese Veröffentlichung am Herzen lag, merkt man dem Band an. Von der angenehmen Haptik durch das solide Hardcover und den Stoffrücken über das griffige Papier bis zum großzügig gewählten Format, welches das Buch nicht zu sperrig macht, die Comics aber auch nicht zu sehr quetscht. Solche banalen Details sind leider nicht immer selbstverständlich. Bei der Übertragung ins Deutsche zahlt sich die lange Erfahrung von Übersetzer Jan Dinter aus; der sprachliche Diskurs durch die Epochen liest sich in der Übersetzung so locker beziehungsweise künstlich gestelzt wie im Original.
Lediglich bei der inhaltlichen Aufmachung gibt es Abstriche. Neben dem besseren Index hätten auch ein paar einleitende Worte zur Person und Arbeit der Autorin nicht geschadet. Dies hätte gerade jenen Lesern geholfen, denen sie bisher gar kein Begriff war. Mit ihrer Mischung aus zeitgeschichtlichem Klatschreport, moderner Analyse und der Suche nach den wahren Helden, die in der Geschichte oft nicht ihren Platz fanden, hat Kate Beaton ein Standardwerk für die Möglichkeiten des Comic-Kommentars vorgelegt.
Ein Paradebeispiel für Comic-Kommentare; K(ate) wie kantig, kompetent und kurzweilig
Zwerchfell Verlag, 2015
Text/Zeichnungen: Kate Beaton
Übersetzung: Jan Dinter
168 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 24 Euro
ISBN: 978-3943547160
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