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Nathanaëlle

Treffen sich eine väterliche Kaffeemaschine, ein weiblicher Cyborg und ein von Arien besessener Altherren-Potentat in einer Retro-Zukunft. Was wie ein schlechter Witz klingt, erzählen Berberian und Beltran in Nathanaëlle als Steampunk-Dystopie.

Eiskaltes Wasser, medias in res – wir werden mitten in eine Schießerei geworfen, zwischen heranstürmenden Ordnungshütern auf der einen, Melville (androider Kaffeeautomat mit Herz), der schießwütigen Nathanaëlle und dem soeben vollverwaisten Vivier auf der anderen Seite.

Alle Abbildungen © Splitter

Rückblende, eine Woche zuvor: Wir lernen in einem der drei zentralen Erzählstränge die Hintergründe von Vivier und dessen Eltern Shirley und Melville kennen. Melville ist, moderner Technik sei Dank, nach seinem  Tod in den Körper eines Androiden geschlüpft, und er hat bei seiner Körper-Wahl eine sehr pragmatische Entscheidung getroffen, schließlich leistet er nun als Kaffee-Automat einen nützlichen Beitrag zur koffeinfreudigen Gesellschaft, oder zumindest für die Kernfamilie. Dass er ein wenig vergesslich ist, macht die Maschine so menschlich wie urkomisch. Die wespentaillierte Shirley hingegen ist trotz des Blutes, das sie durchströmt, eiskalt und herzlos.

Die Titelfigur Nathanaëlle steht im Fokus des zweiten Erzählstrangs. Während weite Teile der Gesellschaft an der Erdoberfläche ein geregeltes Leben führen, hat es die Unterpriviligierten unter der Erde verschlagen, wo sie aus Angst vor einer politisch inszenierten Epidemie ein freud- und lichtloses Leben in kleinen Kammern führen. In Nathanaëlle werden Zweifel an diesem Infektionsnarrativ wach, und so beschließt sie, sich selbst ein Bild davon zu machen, ob das Leben an der Oberfläche erstrebenswert sei.

Dort regiert derzeit ihr langlebiger Vater Tabor in seiner sechsten Amtszeit und muss sich vor einem vielköpfigen Tribunal für seine bisherigen politischen Entscheidungen rechtfertigen, um zugleich den Beginn einer siebten Amtszeit zu beantragen. Diese Anhörung vor dem Aufsichtsrat stellt den dritten umfangreichen Erzählstrang dar.

Nathanaëlle verstößt mit ihrem Erscheinen an der Oberfläche natürlich gegen das Gesetz, und damit wird der ereignishafte Erzählapparat angeschmissen: Tabor lässt seine Tochter verfolgen, die zugleich auf den mitfühlenden und hilfsbereiten Melville trifft. Zwei Vater-Kind-Geschichten überschneiden sich hier und werden bis zuletzt nicht voneinander loskommen.

Der Name der Titelfigur ist eine Hommage an einen der einflussreichsten Maschinenmenschen der Literaturgeschichte. Nathanael aus E.T.A. Hoffmanns romantischer Erzählung Der Sandmann (1816), an dessen Interpretation der Psychoanalytiker Sigmund Freud einst so große Freude hatte. Dort verliebt Nathanael sich in den Automaten Olimpia und verfällt dem Wahnsinn. Von dem phantastischen Verwirrspiel um die Frage der Perspektive ist bei Berberian und Beltran nicht viel übrig geblieben außer der Tatsache, dass Nathanaëlles rechtes Auge technologisch modifiziert wurde. Anmerkung: In Der Sandmann geht es immer wieder um Augen, Ferngläser und die Fähigkeit des Sehens. Dass der väterliche Kaffeeautomat nach dem amerikanischen Autor von Moby Dick, Herman Melville, benannt ist, erschließt sich nicht in gleichem Maße. Unterhaltsam ist das Schicksal der wandernden Kaffeemaschine dennoch.

Fred Beltran hat in Megalex (geschrieben von Alejandro Jodorowsky) bewiesen, dass er so richtig große Brüste zeichnen kann. Das qualifiziert ihn für ziemlich wenig, und man mag die grafische Umsetzung von Nathanaëlle zwar als überzeichnete Groteske verstehen, nichtsdestotrotz nervt der Stil ungemein, zumal die Qualität deutlich schwankt.

Die blassen, immer wiederkehrenden Fratzen, die keine Mimik zu kennen scheinen, sondern nur leichte Nuancen von Mund-halboffen bis Mund-weit-offen, wirken schon nach wenigen Seiten ermüdend. Von dem offensichtlichen Brustfetisch ganz zu schweigen. Das ist wirklich schade, weil viele der Ideen, die Berberian aufs Papier bringt, tatsächlich unterhaltsam sind und frisch daherkommen. So etwa der Kaffeeautomat. Oder Nathanaëlles Vater, der seine Regentschaft mit einer Bach-Arie und einem politischen Coming-Out beenden möchte.

Das politische System, das in Nathanaëlle entfaltet wird, bleibt sehr fragmentarisch, die Beziehungen zwischen den Figuren bleiben meist oberflächlich, die Handlung ist auch wegen diverser Leerstellen nicht immer schlüssig, und so stolpert man als Leser*in von Szene zu Szene, mal amüsiert, mal gelangweilt, mal orientierungslos. Ganz abgesehen von der Pandemie-Thematik, die bald niemand mehr hören kann. Eine erzwungene Tagesaktualität kann man dem Comic zwar nicht vorhalten, da das französische Original 2019 bei Glénat erschien, aber der Comic arbeitet das Thema wiederum so oberflächlich heraus, dass das Setting auch ohne Pandemieverschwörung ausgekommen wäre.

Lauwarmer Kaffee im modernen Automaten

5von10Nathanaëlle
Splitter Verlag, 2021
Text: Charles Berberian
Zeichnungen: Fred Beltran
Übersetzung: Harald Sachse
112 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-96219-553-3
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