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Lydie

Belgien in den 1930er Jahren: Eine an einer Hausfassade angebrachte Madonnenstatue erzählt uns, den Lesern, aus dem Off eine wunderschöne Geschichte, die sie von ihrer exponierten Stellung aus beobachten durfte. Dort, in der „Gasse des Babys mit dem Schnurrbart“ verlor einst die junge Camille tragischerweise ihr Kind bei der Geburt. Doch nur wenige Tage später verkündet die Mutter, dass ihre eigentlich tote Lydie zu ihr zurückgekehrt sei.

© Salleck Publications

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Camille, die sich ihr Baby offensichtlich in Folge des Schocks einbildet, ist fest von der göttlichen Fügung überzeugt, die Lydie aus dem Himmel zu ihr hat zurückkehren lassen. Anfangs machen sich die Bewohner des Örtchens noch lustig über Camilles selbstverständlichem Umgang mit dem unsichtbaren Baby, doch schon bald gelingt es der unbedarften Mutter, bei ihren Mitmenschen so viel Mitleid zu erregen, dass diese beschließen, sie im Glauben der Existenz Lydies zu belassen und das Spiel mitzuspielen. Zuerst steuern sie Kinderwagen und Spielzeug bei, später gilt es, Arzt sowie Pfarrer zur Behandlung bzw. Taufe zu überreden. Die Solidarität der „Schnurrbärtler“, wie die Leute aus der Gasse genannt werden, greift schließlich auf alle über und treibt mitunter skurrile Auswüchse.

Den Namen hält die Gasse übrigens aufgrund eines nachträglich beschmierten Werbeplakates inne, das ein Babygesicht mit Schnurrbart verziert zeigt. Die Herkunft der Schnurrbärtler-Gemeinde, die sogar ein darauf aufbauendes, regelmäßiges Fest ausrichtet, ist nur eine von mehreren kleinen Randgeschichten, die das Album von Zidrou (i.e. Benoît Drousie) und Jordi Lafebre zu einem so bemerkenswerten Comic machen. Ein weiterer dieser Nebenplots ist beispielsweise jener von Camilles Vater, der Zugschaffner ist und von seiner Tochter nur „Papa Tchou-Tchou“ gerufen wird. Er hat seine Frau früh verloren und findet sich nun auf rührende Weise in seine Rolle als liebender Großvater der eigentlich nicht existierenden Lydie ein.

© Salleck Publications

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Autor Zidrou versteht sich außerordentlich gut darauf, viele solcher kleinen Details in eine relativ kurze Handlung zu packen. Auch in puncto Perspektiven muss man Lydie als äußerst  gelungenes Werk hervorheben – egal, ob man damit die tatsächliche, grafische Variabilität der unterschiedlichen Blickwinkel meint oder die narrative, etwa durch die Off-Erzählung der Statue. Die Arbeit des belgischen Szenaristen funktioniert allerdings vor allem über die Emotionen, die beim Leser ausgelöst werden. So kann man hier eine überaus anrührende Comicerzählung verfolgen, eine bezaubernde, einnehmende Geschichte über Glück, Zusammenhalt und Menschlichkeit. Trauer und Freude liegen hier so nah beieinander wie selten in einem Comicband.

Nur etwas länger hätte er für meine Begiffe ausfallen können, um noch mehr Platz für Zwischentöne zu lassen. Lydie vermittelt ein klares Bild der Menschen in der Gasse, deren Leben und Befindlichkeiten und bringt am Ende die Story zu einem runden, befriedigenden Abschluss. Aber die liebevollen kleinen Randepisoden bleiben dabei ein wenig auf der Strecke. Auf nur 60 Seiten kann eben nicht jeder Aspekt ausführlich behandelt werden; ein erweiterter Umfang hätte hier wahrscheinlich noch mal für mehr Tiefe gesorgt. Aber das ist schon Jammern auf sehr hohem Niveau, bei diesem fast perfekten, höchst empfehlenswerten Album.

Eine Mutter verliert ihr Kind. Oder doch nicht? Zidrou und Jordi Lafebre gelingt ein anrührendes Drama.

Lydie
Salleck Publications, 2015
Text: Zidrou
Zeichnungen: Jordi Lafebre
Übersetzung: Eckart Schott
60 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 20 Euro
ISBN: 978-3-89908-589-1
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