Das Beste ist das Licht: Sorgsamst inszenierte weiße Kleckse und Sprenkel, Kegel und Flure reißen hell die gedämpften blaugrünen Bilder auf. Das Zweitbeste sind die unheilvollen Landschaften: aus gekratzten und geschabten Papierstücken zusammencollagierte Wälder, Berge und Kreidefelsen, so anheimelnd wie abweisend, die mit staksigen Hochhäusern kontrastieren.
Diese trügerisch ruhigen Bilder in Wasserfarbenoptik wogen beunruhigend, und sie wogen manchmal über die Panelgrenzen hinaus, nicht selten zieht sich ein Strich, eine Bewegung im Hintergrund sogar über mehrere Seiten, während gleichzeitig die Bilder auseinanderdriften, sich überlappen oder verwirren.
Das Thema ist Erinnerung, sind Traumata, die weder aufgelöst noch ignoriert werden können. Pauls Mutter ist vor Jahren gestorben, und noch immer fällt die Restfamilie deswegen auseinander: der Vater verkriecht sich abwechselnd in Schichtarbeit und eine beklemmende Symbiose mit seinem Sohn, die große Schwester streunt mit nichtsnutzigen Teenagern am Waldrand herum, ist vielleicht in eine Einbruchsserie verwickelt und kommt tagelang nicht nach Hause. Paul erinnert sich in Episoden und Bruchstücken an seine Mutter und versucht, die Chiffren der scheinbaren früheren Harmonie und ihres Endes in seinem Kopf zu ordnen: der überzählige Vogel aus einem Mobile, alte Fotos, Postkarten und Briefe. Das Thema sind Cluster von Eindrücken, die umeinanderkreisen und zusammengehören wie die zackigen Schwarzweißmuster, die für Paul plötzlich in einem Schieberätsel oder in einem „Kalten Hund“ aufscheinen zum Bild der sich wegdrehenden Muster. Ein allumfassender, ruhig kreisender Sog aus Momenten ist stärker als die Figuren, die sich darin verlieren. Die Figuren sehen aus wie bei etwas Verbotenem ertappte altmodische Kinderbuchgestalten, die vage an erstarrte Biegefiguren erinnern. Ihre Gesichter bleiben putzig in qualvoller Unschuld gefangen.
Um es kurz zu machen: Paul findet, möglicherweise, etwas über den Tod der Mutter heraus, und die verwaiste Restfamilie findet, möglicherweise, wieder zusammen. Aber Lichtung macht schon durch seine formale Gestaltung deutlich, dass es an einer klassischen Narration wenig Interesse hat: Immer wieder werden unterschiedlich lange Kapitel durch weiße und beinahe weiße Seiten voneinander abgetrennt, immer wieder fasst eine Bildidee eine Sequenz zusammen, immer wieder sind auf der anderen Seite konventionellere Sequenzen beinahe qualvoll ausführlich dargestellt, beinahe wie eine Parodie auf naturalistische Filme: so probiert Paul zum Beispiel umständlich den Fettstift seiner Schwester aus oder wird millimeterweise auf dem Weg von der Schule nach Hause begleitet.
Dabei sind diese Extreme alles andere als Selbstzweck: Lichtung handelt eben davon, dass Erinnerungen genauso wenig aufgelöst und von A nach B geordnet werden können wie zwischenmenschliche Abgründe und dass eine Gewichtung von Momenten vor diesem Hintergrund nur als ein unaufhörliches Herumtasten in immer ähnlichen Gedankenkreisen möglich ist. Es ist die Ambivalenz von Heimeligkeit und Albtraum, Heimat als Albtraum, im Guten wie im Bösen zusammengehalten durch Ungesagtes und Banales, die Kühn mit ihren formalen Experimenten so eindrücklich wie originell schildert. In zugigen Fluren plaudert der Polizist aus der Nachbarschaft familiär und distanziert über die ausgerissene Tochter, die gleichzeitig ausgebrochen und im Schoss ihrer Heimat gefangen ist wie Paul in Erinnerungen in seinem Kinderzelt. Kinderzelt. Diese Beklemmung von zu nahe und zu weit weg, gleichzeitig zu nachlässig und viel zu eng mag auch als Charakterisierung der verblichenen DDR gemeint sein, in der Lichtung offensichtlich spielt.
Lichtung steht für eine gerade unter guten deutschen Zeichnern und gerade beim „Reprodukt“-Verlag nicht selten aufblitzende Idee vom Comic als Abkömmling von zeitgenössischer ambitionierter Grafik und Illustration, wenn nicht gar als Gegenmodell zur offiziellen bildenden Kunst: Lichtung kennt keine Speedlines, wolkigere Sprechblasen, Schmiss und Schund. Alles ist durch eine gelungene und gebrochene Gestaltung in Anführungszeichen gesetzt und wird mit strenger Ambition ausgestellt. Ein wenig lässt sich das mit anspruchsvoller Popmusik ohne jeden Hauch von Rock’n’roll vergleichen, und wer (wie dieser Rezensent) seit Jahrzehnten das Strapazin liest, will so etwas bei aller inneren Ambivalenz loben und erst Recht in Form einer ganzen, langen Graphic Novel lesen (und dann noch vehementer loben).
Aber ein noch größerer Wurf wäre es (zumindest für diesen Rezensenten) gewesen, wenn Kühn ohne Abgrenzungsangst einen winzigen weiteren Schritt auf den erzählenden Comic und eine klassischere Dramaturgie zu- und einen Millimeter von der Begeisterung für bedeutungsschwangere Layout-Konzepte weggegangen wäre. Aber irgendwann, und vermutlich bald, wird Antonia Kühn ein noch viel größerer Wurf gelingen, und bis dahin können wir uns an Lichtung erfreuen und später sagen: Wir sind dabeigewesen.
Eine beeindruckende, aber dramaturgisch nicht immer überzeugende Reise durch gespenstische Idyllen, malerische Verlorenheit und trügerische Erinnerungen
Reprodukt, 2018
Text und Zeichnungen: Antonia Kühn
276 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 24 Euro
ISBN: 978-3-95640-147-3
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