Die Lemire-Rotationspresse steht nicht still: Mit dem Black-Hammer-Spin-off Unbelievable Unteens und dem ersten Band von Little Monsters sind zwei weitere Titel bei Splitter erschienen.
Der Kanadier Jeff Lemire ist nun wirklich keiner, der mit neuen Comics lange auf sich warten lässt. Ständig erscheinen neue Serien oder One-Shots, deren Stories er geschrieben oder die er sogar selbst gezeichnet hat, wobei der krakelige Stil, der etwa die Fantasyserie Sweet Tooth oder seinen ersten großen Erfolg Essex County kennzeichnet, auch sehr polarisiert.
Charakteristisch ist sein Grenzgängertum zwischen Genre- und Superhelden-Comics einerseits und sehr eigenständigen Geschichten andererseits. Seine Superhelden sind oft nur eine Metapher für Menschen in bestimmten Lebenssituationen, und so erhalten seine Geschichten einen doppelten Boden, der sie spannend auch für Leser*innen anderer Genres macht. Seine Serie Black Hammer (seit 2016), gezeichnet von verschiedenen Künstler*innen, greift inhaltlich, erzählerisch und visuell auf verschiedene Epochen oder Genres der Comicgeschichte zurück und wird so zu einem Meta-Comic über eine Patchwork-Familie im ländlichen Amerika.
Die Vielseitigkeit hat aber auch einen Preis: Während es zwischenzeitlich schwerfiel, einen Überblick über die kreative Produktion Lemires zu behalten, schwand die Kreativität auch immer mehr. Manche Geschichten waren belanglos, andere zwar in Ordnung, aber ohne den besonderen Charme seiner größten Erfolge. Primordial etwa gehörte zu den verzichtbaren Geschichten im Lemire-Kosmos, und auch einige der Black-Hammer-Spin-offs.
In den letzten Monaten sind nun zwei weitere Lemire-Comics auf Deutsch erschienen: Bei The Unbelievable Unteens handelt es sich um ein Black-Hammer-Spin-off, während Little Monsters der Auftakt einer neuen Serie ist. Hop oder Top?
The Unbelievable Unteens
Lemires Black-Hammer-Serie neigt sich dem Ende zu. Nachdem der Auftakt noch als ganz großer Wurf gefeiert wurde, verlor die Seire sich allmählich in einem eng getakteten Veröffentlichungszeitplan diverser Spin-offs, unter dem die Hauptserie doch erheblich zu leiden hatte (hier findet sich eine Übersicht über die Black-Hammer-Publikationen). Nun ist mit The Unbelievable Unteens kurz vor dem Abschluss der Gesamtserie ein Spin-off erschienen, das bei Dark Horse Comics in vier Ausgaben zwischen August und November 2021 veröffentlicht wurde.
Die Zusammenarbeit mit Tyler Crook (Harrow City) resultiert aus der für beide Künstler erfolgreichen Arbeit an dem Black-Hammer-Spin-off Colonel Weird – Cosmagog (hier euphorisch rezensiert für comic.de). Die Hauptfigur in The Unbelievable Unteens ist der aus Black Hammer – Age of Doom 1 bekannte Jack Sabbath, der Lucy Hammer dort durch die Unterwelt führte. Hier taucht er plötzlich in Dragonflys magischer Hütte auf und präsentiert ein Comicheft aus dem Jahr 1985, in dem er eine Rolle spielt, an die er sich nicht mehr erinnern kann.
Gezeichnet wurde dieser Comic-im-Comic von Jane Ito, die sich bei Signierstunden die Finger wundzeichnen muss, um ihre Fans zufriedenzustellen. Als mit Jack Sabbath eine Figur aus ihrer Geschichten plötzlich in ihrer Wohnung auftaucht, ist sie erwartungsgemäß völlig von den Socken. Jack überzeugt Jane aber, dass sie keineswegs fiktive Geschichten aufs Papier gebracht hat, sondern verschüttete gemeinsame Erinnerungen an eine Zeit, als sie gemeinsam mit Straka, Kid Boom und Snapdragon ein Teenie-Teamup bildeten, das sich „The Unbelievable Unteens“ nannte. Das Meta-Abenteuer beginnt.
Jack und Jane machen sich auf den Weg zu den anderen ehemaligen Team-Mitgliedern, damit diese sich wieder an alles erinnern, und zudem erhoffen sie sich, mit vereinter Team-Teen-Power jemanden zu retten, der durch Jacks Schuld in Gefahr schwebt. Der schnauzbärtig-schwergewichtige Familienvater Straka (im Zivilleben Karl) wird von Jane (aka Strobe) durch einen Kuss davon überzeugt, dass sein Leben jenseits von Eigenheim und Elternglück eine aufregende Zeit voller Magie war.
Wenn Jugendliche zu Superkräften kommen, stellen sie in der Regel viel Unsinn damit an, bevor sie anfangen, die Welt zu retten. Das kennen wir aus allen Marvel-Team-Ups nur zu Genüge. Hier treffen die Jugendlichen ihre falschen Entscheidungen vor allem, weil sie ihre Gefühle noch nicht ganz im Griff haben und auf die Ratschläge der Elterngeneration wenig geben.
Die Hauptserie präsentierte, als Jeff Lemire 2016 die ersten Ausgaben veröffentlichte, eine Patchworkfamilie im ländlichen Amerika, deren Superkräfte von allen unerkannt bleiben. Der eine ist alt geworden, die andere bleibt ewig jung, während der wandlungsfähige Marsianer erst ganz allmählich seine Homosexualität zu leben beginnt. Ein Teil des Erfolgs beruhte darauf, dass die Geheimidentitäten dieser zusammengewürfelten Zwangsfamilie eine Metapher für die Geheimnisse waren, die jede*r mit sich herumträgt. Als diese Grundidee immer mehr dem Konzept geopfert wurde, einzelne Phasen der Comicgeschichte zum Vorbild zu nehmen, nahm auch der Zauber der Serie ab. In Unbelievable Unteens wiederum kehrt dieser Charme teilweise wieder zurück, wobei es Lemire und Crook wirklich gelingt, Comic-Marotten von anno dazumal wieder aufleben zu lassen. Die Massen von Gedankenblasen wirken heute völlig aus der Zeit gefallen …
Tyler Crook hat für die beiden Erzählebenen, d.h. die Handlung der Comics und die Handlung in der Erzählgegenwart, zwei sehr unterschiedliche Stile gefunden und hebt diese auch durch sehr eindringliche Farben hervor: Die knallbunten 1980er treffen auf eine aquarellierte Gegenwart in düsteren Tönen, und da es sich nicht nur um verschiedene Ebenen (Fiktion und Realität), sondern auch um verschiedene Lebensalter (Jugend und Erwachsenenzeit) handelt, knüpft der Comic an das ursprüngliche Thema der Serie an. Die Helden sind eben einerseits Teens und Unteens zugleich, Teenager und Erwachsene.
Ein wirklich gelungenes, einfühlsames Spin-off, das neugierig auf die Fortsetzung der Hauptserie macht!
Eine einfühlsame Rückkehr zu den Wurzeln der Serie
Splitter Verlag, 2023
Text und Zeichnungen: Jeff Lemire, Tyler Crook
Übersetzung: Katrin Aust
128 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-96792-227-1
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Little Monsters 1
Die Geschichte handelt vom Überlebenskampf einer achtköpfigen Gruppe von Kindern, die in einer postapokalyptischen Welt ohne Erwachsene leben. Die bunt zusammengewürfelte Gruppe ist aber ganz besonders, denn es handelt sich um Vampire, wenngleich sie auf Anraten ihrer längst verschwundenen Eltern ihre natürlichen Bedürfnisse nicht ausleben. Sie essen rohe Ratten, um zu überleben. Ganz in der Tradition von Vampiren sind sie allesamt trotz ihres kindliches Aussehens bereits mehrere hundert Jahre alt. Als sie überraschenderweise einen Erwachsenen finden, kann Billy nicht widerstehen und geht den arttypischen Neigungen blutsaugender Vampire nach. Danach ist alles anders.
Romie hingegen, eine nonbinäre und stumme Person, ist der Gegenpart zum aggressiven Billy: Trotz des Respekts, den Romie in der Gruppe genießt, ist they (die Übersetzung wählt das englische Pronomen für nonbinäre Personen), kein*e Anführer*in. Als Romie auch auf einen Menschen trifft, beschützt Romie sie. Ein Hauch von „Herr der Fliegen“ weht durch diesen auf zwei Bände angelegten Comic, und Nguyen/Lemire lassen es sich auch nicht nehmen, Anspielungen auf Descender im Comic zu verstecken. So sehen wir ein verlassenes Kino im Hintergrund, auf dessen Reklame eine Ankündigung für den Film „Tin Stars“ zu lesen ist. So heißt der erste Band der Descender-Serie, die schon mehrfach verfilmt werden sollte, es bislang aber nicht auf die Leinwände geschafft hat.
Das Blut, das aus den Mundwinkeln der Kinder tropft, nachdem sie zum ersten Mal einen Menschen gebissen haben, ist das Symbol ihrer Selbstermächtigung, ihrer Mündigkeit, ihrer Sünde, ihres Erwachsenenwerdens. Wie schon das Menstruationsblut, das Stephen King in seinem Roman Carrie (1974) bzw. Brian de Palma in der Verfilmung von 1976 inszeniert hat, markiert dieser Moment das Ende ihrer kindlichen Unschuld und den Beginn ihres Lebens als Erwachsene.
Sogleich verlieren die Kinder das Vertrauen in die Versprechen und Drohungen der Elternwelt. „Was, wenn alles gelogen war, was sie sagten?“ So fängt die Pubertät an. „Ich will das nicht. Ich will keine Veränderung.“ sagt Yui und wünscht sich die Unbedarftheit ihrer Kindheit zurück.
Die Zusammenarbeit mit dem Zeichner Dustin Nguyen weckt natürlich hohe Erwartungen. Lemire und Nguyen haben gemeinsam an der erfolgreichen Science-Fiction-Serie Descender (2015–18) und der Nachfolgeserie Ascender (2019–21) sowie für DC an Robin und Batman (2022) gearbeitet. Für Descender wurde Nguyen 2016 und 2019 mit je einem Eisner Award ausgezeichnet, und die Aquarelle sind tatsächlich wundervoll, wenngleich man eingestehen muss, dass Tim-21 (aus Descender) sich von Robin gar nicht unterscheiden lässt.
In Little Monsters hat Nguyen sich für einen ganz anderen Stil entschieden. Im Gegensatz zum Aquarell-Cover, an dem Fans sofort seine Feder erkennen werden, ist die Story in Schwarzweiß gezeichnet, die Grauabstufungen werden durch feine Rasterpunkte erzeugt. Nur wenige Highlights sind farblich hervorgehoben, vor allem die Blutspritzer etwa in den Mundwinkeln der Kinder. Den Verzicht auf Farbe und die Aquarelltechnik kann man als großen Verlust empfinden. Ein wenig The-Walking-Dead-Flair geistert somit durch den Band, wie es bei Endzeitszenarien in Schwarzweiß (seien es nun Vampire oder Zombies) fast unvermeidlich ist. Man siehe nur Tillie Waldens gerade bei Cross Cult veröffentlichten Serienauftakt zu Clementine.
Das Setting ist noch einigermaßen mysteriös: Haben der Vampirismus und die weltweite Katastrophe überhaupt etwas miteinander zu tun? Was hat es mit den Erwachsenen auf sich, die über irgendein Geheimwissen zu verfügen scheinen? Oder zumindest mehr wissen als die Erzählerin, die auch Teil der Geschichte ist. Lemire lässt sich mit dem Erzählen viel Zeit und lässt vieles im Dunkeln der Nacht, die Vampire so sehr lieben. Und die Leser*innen auch.
Mit blutigen Mundwinkeln erwachsen werden
Splitter Verlag, 2023
Text und Zeichnungen: Jeff Lemire, Dustin Nguyen
Übersetzung: Bernd Kronsbein
152 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3-98721-076-1
Leseprobe