Rezensionen
Schreibe einen Kommentar

Humboldts letzte Reise

Schulen und Straßen, die den Namen „Humboldt“ tragen, gibt es in Deutschland zuhauf. Angesichts eines permanent postulierten Bildungsnotstandes fragt man sich jedoch, ob die Personen hinter diesem Namen überhaupt noch im öffentlichen Bewusstsein präsent sind. Oder assoziiert man mit ihm nur noch Orte?  Wie so oft droht die steinerne Last der Gebäude und Straßen die historisch real existenten Namensgeber – die Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt – zu erdrücken.

© Knesebeck Verlag

© Knesebeck Verlag

In diesem Comic  geht es um den zwei Jahre  jüngeren des gelehrten Brüderpaars: Alexander von Humboldt lebte von 1769 bis 1859 und war das, was man heute als Universalgenie bezeichnet. Sein Wissensdurst war beträchtlich und er kannte sich in vielen verschiedenen Bereichen und Fächern aus. Lange vor Bachelor und Master und einer bevormundenden Universitätsreform bestand mal die Möglichkeit, sich thematisch breit aufzustellen und in verschiedenen Disziplinen zu reüssieren. Humboldt jedenfalls wurde berühmt durch seine Reisen, auf denen er einige Entdeckungen machte und penibel Aufzeichnungen über Reiseumstände, Flora, Fauna, Menschen, Architektur usw. führte. Nun kann man davon ausgehen, dass bei einer Graphic Novel mit dem Titel Humboldts letzte Reise entweder dessen reale letzte Expedition aufgegriffen wird oder eine fiktive Reise dazu dient, die Biographie Humboldts zu erzählen.

Leider ist beides nicht der Fall. Es liegt eine sehr merkwürdige Mixtur vor, die jeden, der eine halbwegs faktengetreue Erzählung erwartet hatte, verwirren dürfte. Was ist das hier eigentlich? Teils Abenteuergeschichte, teils Gesellschaftssatire, teils Charakterportrait, teils eine esoterisch-spirituell-surreale Traumlandschaft. Humboldt macht sich mit Louise, der Tochter eines alten Freundes, auf den Weg nach Südamerika, um den verschollenen Forscher wieder zu finden. Doch schon auf dem Weg dorthin geht das Schiff unter, Louise und Humboldt werden getrennt und erleben nicht nur Revolutionen und Konflikte mit Eingeborenen, sondern auch Liliputaner, fliegende Riesenlibellen und renitente Vögel.

© Knesebeck Verlag

© Knesebeck Verlag

Anfangs folgt man dem Ganzen durchaus gerne, da es in einem realistischen Ton gehalten ist und die Erzählrealität nur ab und zu durch absurde Aspekte, als Traum erkennbar, aufgebrochen wird. Mit solch distanzierenden Effekten ist man spätestens seit Corto Maltese durchaus vertraut. Aber dann wird es endgültig absurd, als die drei Hauptfiguren – der arrogante preußische Forscher und Rivale Humboldts, Otto Ritter, stößt noch zu ihnen – wie Alice in ihr Kaninchenloch in eine Höhle fallen und in ein Wunderland gelangen. Dort ist alles surreal, gewinnt aber trotz einiger satirischer Spitzen keinen sonderlichen erzählerischen Zusatzeffekt.  Diese Etappe wirkt wie ein Fremdkörper und so sieht man sich verschiedenen Teilen gegenüber, die in der Struktur kein Ganzes ergeben.

© Knesebeck Verlag

© Knesebeck Verlag

Scheinbar. Denn wenn man den Comic genauer betrachtet, so findet man doch ein gemeinsames Thema. Anleihen und Verweise auf Swifts Gullivers Reisen, Conan Doyles Das verlorene Land und Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde, kombiniert mit wissenschaftlichen Hintergründen – manche Zeichnungen erinnern an die Seiten von Herbarien – mögen zunächst verwundern, passen jedoch zum zentralen Thema, dem persönlichen Wachstum. Seien es nun Forschungen, das Lernen oder Reisen an sich – die Konfrontation mit dem Fremden ist auch eine Konfrontation mit einem selbst. Schade nur, dass Autor Étienne Le Roux dabei thematische Stringenz vermissen lässt und so viele Elemente gerade der surrealen Ebene als Selbstzweck erscheinen.

Einen besseren Eindruck machen da die wundervollen Zeichnungen von Vincent Froissard, die immer wieder stilistisch zu überraschen vermögen, so dass man sich als Leser selbst auf eine Art Reise begibt. Sowohl Stil als auch Technik der Illustrationen ändern sich bisweilen, und auch hier gibt es wieder Querverweise: Ähnlich wie bei alten Gemälden sind öfters die Grundierung der Leinwand und deutliche Spuren des Pinselstrichs zu sehen, was an die alten Meister erinnert. Manches, wie die oben erwähnten Herbarien, lehnt sich an Illustrationen in den damaligen wissenschaftlichen Büchern an, anderes an Gemälde von M.C. Escher, wieder anderes folgt einem klassisch franko-belgischen Stil und irgendwann verschwimmt alles vor den Augen des Lesers.

Womöglich ist es einfach zu viel, was hier miteinander vermengt wird, und zu vieles davon steht einfach ohne erzählerische Berührungspunkte nebeneinander. Man ist als Leser durchaus fasziniert, aber irgendwie auch ziemlich hilf- und orientierungslos. Einen Blick ist das Buch, das beide Alben der französischen Ausgabe in einem Band versammelt, schon wert, richtig fesseln konnte es zumindest mich nicht.

Faszinierende Comicgemälde, bei denen die Form jedoch vor dem Inhalt kommt.

Humboldts letzte Reise
Knesebeck Verlag, 2015
Text: Étienne Le Roux
Zeichnungen: Vincent Froissard
Übersetzung: Anja Kootz
160 Seiten, Hardcover, farbig
Preis: 24,95 Euro
ISBN: 978-3-86873-826-1
Leseprobe

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken dieses Formulars erklärst du dich mit unserer Datenschutzerklärung einverstanden.