1989 erschien in Art Spiegelmans innovativer Comicanthologie RAW ein Beitrag von Richard McGuire, der für viel Aufsehen sorgte. Der sechsseitige Kurzcomic Here brach mit der traditionellen Grammatik des Comics, nach der jedes einzelne Panel ein eingefrorener Moment in der Zeit ist und von einem Panel zum nächsten stets ein gewisses Maß an Zeit vergeht. Here arbeitete dagegen mit vielen ineinander verschachtelten Panels, die ein und denselben Ort zu jeweils ganz unterschiedlichen Zeiten zeigten. McGuire spannte einen Bogen von der Urzeit bis zum Jahr 2033, blieb dabei aber mit der „Kamera“ immer am selben Fleck und zeigte so, was über einen langen Zeitraum an diesem Ort geschehen ist.
25 Jahre später hat McGuire aus seinem Sechsseiter ein dickes Buch von 300 Seiten gemacht. Titel und Konzept sind identisch mit der Urversion, in Aufmachung und Grafik gibt es hingegen einige Unterschiede. Wie im Original blickt man auch hier zunächst in ein Wohnzimmer. Dieses Zimmer beziehungsweise das Haus, zu dem es gehört, ist so etwas wie der Hauptprotagonist von Hier. McGuire hüpft nichtlinear durch die Zeit, springt von der Gegenwart in die Fünfziger Jahre und wieder zurück, ins 17. Jahrhundert, in prähistorische Zeiten ebenso wie ins Jahr 2213. Das Haus stand natürlich nicht immer hier und wird auch nicht für alle Zeiten dort stehen, aber der Großteil der Panels spielt sich darin ab, unter anderem sieht man auch, wie es gebaut wurde. Eine echte Handlung gibt es nicht, vielmehr sind es Momentaufnahmen und kleine Episoden, die sich zum Teil auch über etliche Seiten erstrecken: Ein im Freundeskreis erzählter Witz, ein Künstlerpärchen beim Picknick, diverse familiäre Ereignisse oder eine Führung mit einer Touristengruppe im 23. Jahrhundert.
Formal fällt als erstes ins Auge, dass McGuire jeweils eine komplette Doppelseite als großes Panel verwendet, in das dann mal mehr, mal weniger kleine Zusatzpanels eingefügt werden. Das hat zwar den Nachteil, dass die Mitte des Bildes jedes Mal im Buchfalz verschwindet, ist aber eigentlich eine konsequente Weiterführung der Urfassung: Der weiße Zwischenraum zwischen den Panels, den Scott McCloud „Gutter“ nennt, in dem sich der Leser selbst die Verbindung zwischen zwei Bildern baut, wird hier komplett abgeschafft. Wobei das natürlich nicht bedeutet, dass man bei der Lektüre von Hier keine Verbindung zwischen den Bildern herstellt – im Gegenteil: Gerade das Auffinden von Assoziationen und Querverweisen zwischen Szenen, die zeitlich weit auseinander liegen, gehört zu den größten Reizen des Buchs.
Grafisch sieht das Hier von 2014 deutlich anders aus als die Urfassung: komplett in Farbe, dabei aber niemals knallig. Die Inneneinrichtung des Wohnzimmers ist meist in einem extrem klaren, technisch anmutenden Stil gezeichnet, das an die Nüchternheit von 3D-Einrichtungssoftware erinnert. Im Kontrast dazu zeichnet McGuire Menschen und Szenen außerhalb des Hauses zumeist mit skizzenhaft-grobem Bleistiftstrich, wobei er zwischendurch aber auch andere Stilmittel verwendet.
Here war 1989 in erster Linie ein formales Experiment – ein sehr gelungenes, das bis heute als Meilenstein gilt. Wenn man nun aus so einem Experiment eine dicke „Graphic Novel“ machen möchte, sollte man aber auch inhaltlich etwas zu erzählen haben. Und an diesem Punkt bleibt die Langfassung von Hier leider im Fragmentarischen hängen. Ein roter Faden ist nicht zu erkennen, außer den erwähnten kleinen Episoden gibt es keine Erzählhandlung im eigentlichen Sinn.
Die große Stärke des Original-Here war unter anderem auch seine Prägnanz, die Qualität, auf nur sechs Seiten zum Punkt zu kommen. Wenn man so will, ist die Urfassung das Konzentrat und die neue Fassung die verdünnte Version.
Die Erkenntnisse, die McGuire in Here vermittelt, sind letztlich ziemlich banal: Wir sehen stets nur einen winzigen Ausschnitt der Wirklichkeit, der zeitlich und örtlich extrem beschränkt ist. Und egal wo wir stehen, an diesem „Hier“ haben immer schon andere Dinge stattgefunden und werden es auch in Zukunft tun. Das erinnert an Jens Harders monumentale Alpha-Beta-Gamma-Trilogie, wo diese Erkenntnisse aber weitaus spannender, schlauer und auch witziger präsentiert werden als bei McGuire, dessen Zeitreise im Wohnzimmer über die Strecke von 300 Seiten dann doch eine eher dröge Veranstaltung ist.
Es wäre schön, wenn man in diesem Band auch die Originalfassung des Werks abgedruckt hätte. Aber vielleicht war das auch deshalb nicht gewollt, weil dann noch deutlicher würde, dass das Here von 1989 die weitaus stärkere Version ist.
Verdünnte Version eines Comic-Meilensteins
Dumont Buchverlag, 2014
Text und Zeichnungen: Richard McGuire
Übersetzung: Stephan Kleiner
300 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 24,99 Euro
ISBN: 978-3-8321-9762-9
Zweite Meinung: Für Cristian Straub war Hier eines der großen Highlights des letzten Jahres. Sein Text dazu steht bei unseren Topcomics 2014.
Ich finde, man sollte auch nochmal unterstreichen, dass „Hier“ einem Konzept folgt, das nur im und als Comic entstehen konnte. Zwar gibt es Verwandtes in der Fotografie und der Kunst (McGuire zitiert selber den japanischen Grafik Designer und Kollagenkünstler
Tadanori Yokoo als Einfluß), aber eben nicht in einem zeitgebundenen Medium. Insofern verstehe ich Dein Anliegen, das Konzept noch klarer in Richtung einer dramaturgischen Geschichte umgesetzt zu sehen. Es wäre sicher ein spannendes Projekt. Mir hat das Storytelling nicht gefehlt. Im Gegenteil empfand ich es als Entlastung, dass die elegante Form immer im Vordergrund stand, dabei leicht und transparent und etwas geheimnisvoll blieb. Aber als zu dünn bzw. verdünnt empfand ich das nie. Das Lesen bzw. Betrachten der 300 Seiten, das gelegentliche Vor- und Zurückblättern, die losen Verweise und kleinen Details die man entdeckt, lassen sich als Einladung verstehen sich Zeit zu lassen, einzulassen, die Idee auf sich wirken zu lassen. Wie bei der Betrachtung eines Bildes.
Es ist nicht einfach zu erklären, ob und was genau beim Lesen von „Hier“ passiert und offensichtlich scheint es da keinen Automatismus zu geben. Aber dieses wundersame Erstaunen haben auch andere Kritiker erwähnt. Ich zitiere aus der schönen Rezension von Etelka Lehoczy auf npr.com: „[it’s]… pretty straightforward, or so it seems. But the magic of Here is that somehow, alchemically, this sparse little exercise begins to yank on your emotions. As your eye lurches around the page, as you flip back and forth between pages, an irresistible sentiment swells. Rare among conceptual works, Here manages to tug your heart even as it undercuts your comfortable role of reader.“ Sowie: „.. it’s deeply satisfying. Kind of like a story that never ends.“