„When you’re standing on the crossroads That you cannot comprehend: just remember that death is not the end“. Bob Dylan
„Death is not the end“ ist ein Songtext, den auch Nick Cave 1995 auf seiner LP Murder Ballads sang, der ironische Abschluss einer Sammlung brutaler Mordphantasien und Serienmördergeschichten. Der Tod also nicht das Ende aller Dinge … – dabei steckt doch gerade in dem Gedanken, dass irgendwann Schluss mit dem Ganzen sein wird, auch etwas durch und durch Entspannendes und Befriedendes. Tommy Schwarwel hat sich intensiv mit dem Gedanken an den Tod auseinandergesetzt und zeichnet in seiner autobiografischen Graphic Novel Gevatter auf, dass es nicht unbedingt religiöses Pathos braucht, um einen angemessenen Umgang zu den Themen Tod und Sterben zu finden.
Tommy Schwarwel geht dabei nicht streng chronologisch vor, sondern umkreist, ausgehend von therapeutischen Sitzungen, Stationen einer Kindheit und Jugend in der DDR, in denen er (bzw. sein alter ego Timmy) sehr früh schon mit Tod und Verfall in Berührung kam. Timmys Mutter war Ärztin und erzählt dem Jungen zu Beginn recht unverblümt von Krebszellen und was diese anrichten können, dann besucht die Familie die alte Uroma und sie gehen zu Tante Ursel, deren Kind Mia damals bei der Geburt nicht genug Sauerstoff bekam und daher geistig und körperlich zurückgeblieben ist. Der kleine Timmy verarbeitet solche Begegnungen mit Kinderspielen, in denen er alle Bösen umbringen will, und liest gerne die Gespenstergeschichten aus dem Westen.
Der erste Todesfall in der Familie – Uroma Pretzsch – geht an Timmy vorbei, ohne dass er viel davon mitbekommt, die Eltern verhandeln den Trauerfall mehr oder weniger an ihm vorbei. Als sein trächtiger Hamster Goldie stirbt, will Timmy es aber wissen: Mit einem Skalpell öffnet er zusammen mit Papa den Bauch des toten Hamsters und holt fünf Hamsterbabies heraus. Während einer Gartenparty ist er dabei, als ein Hase geschlachtet wird, nebenbei wird darüber geplaudert, dass die Nachbarstochter vom besoffenen Vater im Suff erschlagen worden ist, es gesellt sich also zur ganz normalen Tristesse mit einer seltsamen Beiläufigkeit das völlig Krasse, so dass man nachvollziehen kann, wie die Gedanken im jugendlichen Gemüt kreisen müssen. Mehrfach ist von Selbstmord und versuchtem Selbstmord diverser Bekannter die Rede, dann findet in der Nachbarschaft eine Vergewaltigung statt. Die Lebensumstände müssen wirklich wahnsinnig trist gewesen sein.
Tommy Schwarwel hat sich dafür entschieden, seine Geschichte nahezu komplett in dem Neun-Panel-Raster zu erzählen, das auch Dave Gibbons und Alan Moore für Watchmen verwendet haben. In den stärksten Momenten gelingt es Schwarwel, dieses Layout für eine effektive Verdichtung der unchronologischen Erzählung zu nutzen, Die intensivsten zwei Seiten zeigen eine wortlose Aneinanderreihung mehrerer Todesfälle alternierend mit seinem eigenen Gesicht in verschiedenen Lebensphasen, was auf interessante Weise die Stimmung unterschiedlichster Zeitebenen bündelt. Das geht über in Szenen zunehmender Verzweiflung, dazwischen Bilder von Weinflaschen und Psychopharmaka geschaltet, dann ein Gesicht ohne Haut aber mit Muskeln, dann ein blanker Totenschädel – so viel unterscheidet den Lebenden nur vom Toten, das Vertraute vom blanken Horror: nur die dünne Haut. Man sieht Timmy am Bahnsteig stehend, zum Sprung auf die Gleise bereit, in letzter Sekunde dann der rettende Anruf des Psychiaters – alles ohne Worte in 23 intensiven Panels aneinandergereiht. Starker Stoff.
Solche Reihungen gelingen tatsächlich noch weitere Male, noch öfter kreist Timmy um sich, eine interessante Parallelmontage, die Timmy beim Pillenschmeißen oder besoffen mit dem Gesicht im Rinnstein zeigt, dann wieder Timmy in panischer Selbstmordstimmung, der Bahnsteig, dann in der therapeutischen Sitzung, schließlich aber beim Helfen eines kranken Menschen und zuletzt abgeklärt im Regen stehend, sein Leben Revue passieren lassend. Dem gegenüber stehen Panelfolgen, in denen sich der Bildausschnitt nur minimal ändert, beispielsweise, wenn Timmy im Bett liegt und nicht einschlafen kann. Auch die Panelfolge, in der er sich sein Tattoo eigenhändig umsticht und dabei ein Bier säuft, dann die leere Flasche im Selbstekel aus dem Fenster wirft, ist beeindruckend. Formal gibt es einiges zu bewundern.
Inhaltlich aber kommt Gevatter nicht so recht vom Fleck. Timmy wird älter, macht Punkrock und diskutiert mit seinen Kumpels, ob Slayer Nazis sind oder nicht (sie sind es nicht), man redet noch mehr über Selbstmord und über den Opa mit SS-Vergangenheit, wechselt also stetig zwischen Weltekel und Selbsthass. Aber es findet keine Entwicklung statt. Nach über 100 Seiten wird langsam klar, dass Gevatter ein Von-der-Seele-Schreiben all der dunklen Flecken der eigenen Biografie ist. Das immerhin gelingt auf einem beachtlichen Niveau.
Die Unterteilung der Kapitel in die fünf Trauerphasen „Verleugnung“, „Zorn“, „Verhandlung“, „Depression“ und „Akzeptanz“ wird kaum genutzt, daraus inhaltliches Kapital zu schlagen. Tatsächlich hatte ich nie das Gefühl, dass sich der Titel des jeweiligen Kapitels zu irgendeinem Zeitpunkt des Kapitels konkret manifestiert. Nur auf dem letzten Seiten des letzten Kapitels bricht sich tatsächliche eine Form von Akzeptanz Bahn, als Timmy beginnt, den Selbstzerstörungs-Modus mehr und mehr zurückzudrängen, um seiner zugewandten, menschlichen Seite verstärkt Raum zu geben, so dass ein schwaches Gefühl von Hoffnung Raum gewinnt. Aber auch das ist nur eine Akzeptanz der Tristesse dieser Welt. Man würde Timmy wünschen, dass er mehr Schönes darin findet. Aber er trägt von nun an aktiv dazu bei, etwas mehr Licht in die Welt zu tragen. Dieser nur vermeintlich kleine Schritt ist nicht weniger als eine Lebensentscheidung.
Selbst-Therapie mit Punk-Vibes
Glücklicher Montag, 2024
Text und Zeichnungen: Schwarwel
168 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 19,90 Euro
ISBN: 978-3948518226
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